Durch ein ungewohntes Geräusch wurde Vera Hoichuk am Morgen des 24. Februars 2022 geweckt. „Das klang gerade wie ein Bombengeräusch... Das ist doch lächerlich! Was für ein komischer Traum“, sagt sich die Frau aus Vorzel in der ukrainischen Region Bucha und schläft sofort wieder ein. Wenige Stunden später erwacht sie und sieht auf ihrem Handy Dutzende von Nachrichten, Bildern und Aufnahmen vom russischen Angriff auf die Ukraine: Der Krieg hat begonnen! Ob sie einen Plan hat? „Ja, ich gehe und kaufe mir mal einen Kaffee und mach mir danach einen Plan”, antwortet Vera. Doch vor ihrem Liebelingscafé angekommen, sieht sie, dass dieses geschlossen ist. Menschen eilen in die Supermärkte, viele sind in Panik. „Panik bedeutete schon immer für mich, dass das Café zu hat“, scherzt sie. Erst später begreift sie die Lage in ihrer Heimat und am Rande von Kiew.
Inzwischen ist das ein Jahr her. Vera (41) und ihre beiden Söhne leben weiterhin in der Ukraine. Als Psychologin versteht sie, wie wichtig ihre Anwesenheit für die dort Gebliebenen ist. Nur für wenige Tage entfloh sie ihrem neuen Alltag. Vera und ihre beiden Söhne wurden vom „Prin Banat”-Verein nach Temeswar/Timișoara eingeladen, um dort an der Premiere des Dokumentarfilmes „When Borders Get Indistinct“ (Wenn Grenzen verschwimmen) – genau ein Jahr nach dem Ausbruch des Krieges in ihrem Land - teilzunehmen. Am darauffolgenden Tag kehrte sie schon wieder zurück. Der Film in der Regie des Dokumentaristen Mircea Sorin Albuțiu zieht eine Parallele zwischen den Schicksalen und Erzählungen von Menschen, deren Migrationshintergrund und ihrem Kampf für den Erhalt ihrer Identität aus Rumänien, Serbien und der Ukraine. Der Streifen ist eine Produktion im Auftrag des „Prin Banat“-Vereins innerhalb des Projekts „Cămine în mișcare – Moving Fireplaces“ (Kamine in Bewegung), Teil des offiziellen Kulturhauptstadtprogramms Temeswar 2023.
Nicht die Menschen wandern, sondern die Grenzen – heißt es im Dokumentarfilm. Was passiert mit den Menschen, wie verändern sich ihre Schicksale, was sind ihre Geschichten? Von diesen Fragen ausgehend hat der rumänische Fotograf und Regisseur seine Dokumentation im Sommer des vergangenen Jahres im Banat (dies- und jenseits der Grenze – in Moldova Veche, Uzdin und Covăcița), als auch in der Ukraine (in Bucha, Vorzel, Irpin, Borodyanka und Kiew) begonnen. So kamen zwei nur scheinbar unterschiedliche Geschichten ans Licht: Die eine ist die des historischen Banats und seiner Bewohner, die immer noch um die Bewahrung ihrer Identität kämpfen. Die andere stammt aus der jüngsten Geschichte der Ukraine, wo der 2022 ausgebrochene Krieg Millionen von Menschen entwurzelte. Viele ließen alles zurück, um am Leben zu bleiben, andere blieben weiterhin in der Heimat und kämpfen täglich ums Überleben. Alle Geschichten aus dem Dokumentarfilm sind ernst und bewegend zugleich, auch wenn sie manchmal mit Humor dargestellt werden. Das Leben ist nach wie vor eine Tragikomödie. Als eine Metapher für den aktuellen Krieg in der Ukraine beginnt Mircea Albuțius Film mit Aufnahmen aus der Theaterproduktion „Miorița“ des Temeswarer unabhängigen Ensembles „Auăleu“. Die Inszenierung basiert auf der beliebten altrumänischen Volksballade über drei Hirten, von denen zwei planen, den dritten aus Neid umzubringen, wobei der eine ihn rücklings ersticht. Das Projekt „Moving Fireplaces“ entstand inmitten der Flüchtlingskrise in Europa im Jahr 2015. „Jetzt, im Jahr, in dem Temeswar Kulturhauptstadt Europas ist, steht Europa aufgrund des Krieges in der Ukraine vor einer neuen Flüchtlingskrise. Die Dokumentation der Geschichten von Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch von denen, die sich entschieden haben, zu bleiben, ist eine Priorität dieses Projekts“, sagt Alexandra Palconi-Sitov vom Prin-Banat-Verein. Die Doku Mircea Sorin Albuțius soll in der kommenden Zeit mehrmals in Temeswar und Rumänien gezeigt werden.