Rumänien ist Mitglied der EU und der NATO. Ein freies Land einschließlich der Erlaubnis zu freier Meinungsäußerung, aber trotzdem noch immer Geisel der eigenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dreißig Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs auch im Land der Hauptstadt Bukarest sollte die Vision gelten dürfen, Vergangenheitsbewältigung und Selbstkritik miteinander zu verknüpfen. Leider ist vielen Menschen der Blick in den Spiegel verhasst. Anstatt auszuheilen und saubere Narben zu hinterlassen, laden Wunden der Nachkriegsgeschichte ihren Eiter unbehelligt auf das Zivilbewusstsein der Gegenwart und Zukunft ab. Gebildete, deutlich säkular orientierte und zu kontroversen Debatten fähige Nachwuchsbürger Rumäniens ohne biografisch belasteten Bezug zum Umsturz des Jahreswechsels 1989/1990 artikulieren für sich selbst regelmäßig ein und dieselbe Frage, sooft auf den Routen zwischen Banat und Schwarzmeerküste und von der Oltenia bis zur Bukowina kulturelle Fettnäpfchen schmoren, deren Gewürzmischung im Vergleich zur – nach jahrzehntelanger Wiedergutmachung – abgemilderten Schärfe westeuropäischer Selbstwahrnehmung vielfach pikanter schmeckt: In welche Falle bin ich soeben wieder einmal getappt, wer hat sie aufgestellt? Habe ich Schattenphänomene des Antisemitismus oder des Kommunismus entdeckt? Allein darüber Bescheid zu wissen, dass man sich auf vermintem Territorium bewegt, befriedigt nicht, nein. Die geschichtlich exakte Ortung der Ursprünge jeder Art von Überheblichkeit oder Minderwertigkeitskomplexen ist enorm wichtig.
Wer sich differenziert reflektierend am gesellschaftlichen Diskurs Rumäniens beteiligen möchte und dies gar von einheimischer Position heraus praktiziert, macht sich in konservativen Kreisen leicht unbeliebt. Gesprächsopponenten, die als Stellvertreter traditionsverhafteter Lager durch den Alltag laufen, müssen sich teils zähneknirschend eingestehen, dass Jungsympathisanten des liberalen Flügels Ansichten, die vor zig Jahren als Tugend galten, für überholte Ansätze halten und nicht in die Zukunft tragen wollen. Interpretation von Geschichte ist kein abgeschlossener Vorgang, der von Amts wegen nicht erneut aufgerollt werden dürfte. Zumal in Rumänien, wo das Zivilbewusstsein gerade erst aktuell zaghaft anfängt, den Korsetten ideologischer Bevormundung seitens Partei und Staat zu entwachsen. Rumäniens Filmemacher fördern die Verselbstständigung ihres Heimatlandes voll und ganz. Nicht von ungefähr fallen die Langzeitstreifen von Regisseuren wie beispielsweise Cristian Mungiu, Cristi Puiu, Radu Jude und Andrei Cohn allesamt in die Kategorie ungeschönter Realitätswiedergabe. Die Sprache der modernen Kinoleinwand Rumäniens wird von den landespolitischen Eliten zumeist wortlos gemieden.
Autorin Olga [tefan (Jahrgang 1988) stammt aus Hunedoara, wuchs in Chicago auf, studierte rumänische Literaturwissenschaft in Klausenburg/Cluj-Napoca und lebt seit 2009 freischaffend in Zürich. Ihr Portfolio versteckt sich nicht im kargen Lebensraum zwischen den Welten. Stattdessen bietet es Bekanntschaft mit einer Kulturschaffenden, die den Unterbewusstseinsstufen geopolitischen Miteinanders auf dem Planeten Erde nachspürt. Donnerstagabend, am 3. Oktober, wurde ihr einstündiger Dokumentarstreifen „Gestu-res of Resistance“ (2019) auf einer mobilen Leinwand im Foyer des B-Gebäudes der Astra-Bibliothek Hermannstadt/Sibiu vorgestellt. Zwei knappe Dutzend Zuschauer verfolgten die filmische Retrospektive zum Thema antifaschistischen Widerstandes auf jüdischer Seite anhand von Interviews mit Überlebenden des Holocaust aus Tschechien, der Slowakei und Rumänien. Olga Ștefan führte persönlich in den Kontext ein, begleitete dieselbe Filmvorführung zu Monatsanfang in Zillenmarkt/Zalău, Arad, Schomlenmarkt/Șimleul Silvaniei, Klausenburg/Cluj-Napoca und Bukarest und verwickelte auch das junge Publikum Hermannstadts in eine anregende Diskussion bezüglich Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, an der lebenslänglich weitergesponnen werden kann.
Ein halbes Jahrhundert lang konnte in Europa der Anschein friedlichen Zusammenlebens gewahrt werden. Was noch heute andernorts in der Welt unerreichbar bleibt, hatte auf dem alten Kontinent den Status reeller Idylle. Jedoch muss man derzeit Verteidiger eines totgeglaubten rechtsradikalen Gedankenguts erneut und unvermittelt auf dem Spielfeld tolerieren. Warum und wie ist es ihnen gelungen, unbemerkt auf die Bühne zu gelangen? In Osteuropa muss der Versuch einer Antwort hierauf zwangsläufig anders als im wohlhabenden Abendland ausfallen. Die sozialen Krankheitsgeschichten der Slowakei, Tschechiens und Rumäniens sind aber auch für die Gegenwart der gesamten EU höchst relevant.
Bei Olga Ștefan eröffnet eine slowakische Zeitzeugin namens Erika den Domino-Effekt der Rückbetrachtungen. Sie erzählt von sich selbst und ihrer Schwester Jolana, die als Partisanin dem KZ Theresienstadt entkommen konnte, einen Mann aus Zillenmarkt heiratete und mit ihm nach Klausenburg zog. Erika und ihre Eltern waren nach Auschwitz gebracht worden. Erika überlebte, gelangte nach Bratislava, erfuhr vom neuen Wohnort ihrer Schwester, holte die Wegbeschreibung ausschließlich über täglich neuen Mundfunk ein und ging zu Fuß nach Klausenburg. Es war die Zeit ohne GPS und mit Grenzstationen, die man dank Hilfe Einheimischer geschickt umgehen konnte. Erika rechnet auch mit dem Rotem Kreuz und den Alliierten ab: „Die polnische Regierung kommunizierte aus ihrem Exil, dass 468.000 Juden hingerichtet worden waren. Großbritannien zweifelte die Authentizität dieser Mitteilung an. Keine einzige Armee der Nachbarstaaten hat sich beizeiten bereit erklärt, Auschwitz zu bombardieren, um das Ausmaß der Quälerei zu verringern.“
Der letzte Baustein im Zugeständnis Englands folgte spät. Erst 2000 wurde im Imperial War Museum London die erste permanente Holocaust-Ausstellung in Großbritannien eröffnet. Doch gibt es auch Schuldgefühle von Holocaust-Überlebenden. Zwar nur vereinzelt, aber eben doch. Tscheche und Jude Otto hatte seinen Geburtsschein gefälscht und sich als römisch-katholischer Christ ausgegeben: „Ich wurde Mitglied der Partisanen. Sie haben mich gezwungen, einen Menschen von der SS, den wir als Geisel genommen hatten, zu töten. Dieses Trauma hat mich lebenslang begleitet.“ Überaus nüchtern resümiert Alexandru Elias im Namen Rumäniens, was es mit den Gräueltaten der NS-Zeit auf sich hat, denn „diejenigen, die hingerichtet wurden, dürfen wahrhaft als Mitglieder des Widerstandes gelten. Sie sind die Helden! Wir anderen sind nur einfache Menschen einer Haltung und nichts weiter als nette Buben. Es gibt nur ein Land in Europa, das sich nach Kriegsende konsequent um die Brandmarkung von Antisemitismus bemüht hat: die Bundesrepublik Deutschland!“
Im reichen Westen gibt es heute die eine sozialpolitische Sorge um das neue Aufkommen der extremen Rechten. Rumänien aber muss einer Doppelbelastung standhalten, trägt sowohl Bissspuren des Antisemitismus als auch blaue Flecken des Kommunismus auf seinem Körper. Mehr denn je ist Hellhörigkeit gefragt. Solange sie nur international gilt und innerhalb der Landesgrenzen Rumäniens nicht ernst genommen wird, kann der Nachfolgestaat von Antonescu, Ceaușescu und Iliescu nicht vollends in das freie Europa aufschließen. Kulturell ist das Kino- und Theaterland Rumänien bereits dort angelangt. Wäre da nicht der Anker der Seilschaften von Eiserner Garde und Securitate, die an ausgestorbenen Feindbildern festhalten.