Aus dem Roma-Viertel heraus in die Schule und in die rumänische Gesellschaft geführt

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Vereins „BuKi – Hilfe für Kinder in Osteuropa“

Stefan Zell (links) und Heidi Haller (Mitte) engagieren sich seit 2008 in Cidreag.

Jährlich veranstaltet BuKi eine Sommerveranstaltung, bei der Kinder unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. | Fotos: Stefan Zell/BuKi

Spielerisch lernen die Kinder den interkulturellen Austausch.

Das BuKi-Haus in Cidreag ist zu einer wichtigen Anlaufstelle für die Roma-Kinder geworden.

Der Verein „BuKi – Hilfe für Kinder in Osteuropa e.V.“, engagiert sich seit 2008 für Roma-Kinder im äußersten Nordwesten Rumäniens in Cidreag (Kreis Sathmar/Satu Mare). Was als Hilfsaktion für eine besonders benachteiligte Gemeinschaft begann, entwickelte sich schnell zu einem nachhaltig wirksamen Bildungsprojekt. Seit 2011 unterhält der Verein zudem das sogenannte BuKi-Haus, welches als Tagesstätte im Roma-Viertel fungiert. In einem Gespräch mit ADZ-Redakteur Arthur Glaser berichtet der Vorsitzende des Vereins, Stefan Zell, über das Engagement von BuKi, die Herausforderungen bei der Arbeit mit Roma-Kindern und den entscheidenden Beitrag des Vereins zur Verbesserung der Lebensperspektiven der Kinder in der Region.

Herr Zell, wie ist die Idee zur Gründung von BuKi – Hilfe für Kinder in Osteuropa e. V. entstanden – und warum engagieren Sie sich gerade im nordwestlichen Rumänien, in Cidreag?

Dass wir heute eine Tagesstätte für Roma-Kinder in Cidreag leiten würden, war nicht geplant, sondern eher ein Zufall – oder sollte ich vielleicht Schicksal dazu sagen? Meine Frau Heidi Haller hat im Februar 2008 einen Bekannten auf einem Hilfstransport in die Region um Halmeu (Kreis Sathmar) begleitet. Sie haben verschiedene Kirchengemeinden angefahren, um dort typische Hilfsgüter abzugeben. Auch in Cidreag fand eine Vergabe statt. Nur dort sind einige Kleiderpakete übriggeblieben. Dann stellte sich die Frage, was damit geschehen sollte. Rasch meldete sich ein Herr, der meinte: „Ich wüsste da noch eine Stelle.“ 

Meine Frau brachte von ihrem Aufenthalt im Roma-Viertel Fotos mit nach Hause, die uns nicht unberührt ließen. Wir kannten viele Formen der Armut aus Asien und Südamerika, aber dass Familien in Europa bei Minusgraden im Plastikverschlag hausten, das passte nicht mehr in unser Bild. Wir haben uns die Fotos angeschaut und gesagt: Da müssen wir was tun.

Nun, viele Menschen haben ja von vielem zu viel. Insofern war es keine große Sache, einen Sprinter mit Kleidern zu beladen und weitere Fahrten nach Cidreag anzusteuern. Gleichzeitig haben wir uns damals gefragt – und tun dies auch heute noch –, welche Effekte unsere Arbeit hat. Wir mussten erkennen, dass wir mit Hilfstransporten Menschen in unmittelbarer Not helfen konnten, die Struktur der Armut mit dieser Form der Hilfe aber nicht verändern würden. Das war für uns sehr unbefriedigend. Nach zwei Jahren und etwa sechs Fahrten stand die gesamte Aktion auf der Kippe. Hilfstransporte wollten wir in jedem Fall nicht mehr durchführen.

Gleichzeitig haben wir bei den Fahrten viele Familien mit Kindern kennengelernt und uns gefragt: Welche Schuld trägt ein Kind an seiner Situation? Wenn wir über die Hilfstransporte hinweg noch etwas tun wollten, dann eben für Kinder. Aber wie?Aus unserer Situation heraus war es fast unmöglich, an dieser Stelle weiterzugehen: Wir waren in Deutschland voll berufstätig, 1300 Kilometer vom Geschehen weg, hatten kaum Kontakte in die Gemeinde – wer vermietet in Rumänien eine Immobilie an ein Roma-Projekt, wer arbeitet für ein Roma-Projekt, wer finanziert das alles? Jeder Punkt für sich war dabei ein KO-Kriterium.

Nennen wir es Zufall, Fügung oder irgendjemand wollte, dass wir dies tun: Im Januar 2011 haben wir in Cidreag eine Tagesstätte für Roma-Kinder eröffnet – das BuKi-Haus.

Ihr Leitgedanke lautet „Mit Bildung gegen Kinderarmut“. Was bedeutet das konkret im Alltag der Kinder und welche besonderen Herausforderungen erleben Sie in der Arbeit mit Kindern aus Roma-Gemeinschaften – und wie versuchen Sie, diesen zu begegnen?

Die sozialen Spannungsfelder im Roma-Kontext sind enorm. Einfache Lösungen sucht man vergebens. Eine besondere He-rausforderung für BuKi ist die Teilhabe der Kinder an Bildung. Sehr schnell wurde uns klar, dass die klassischen Roma-Lebenswelten mit der staatlichen Bildungswelt nicht kompatibel sind.Eine Lebensperspektive, in der 12-, 13-, 14-Jährige ihren Lebenspartner suchen und eine Familie gründen, kollidiert fundamental mit der staatlichen Bildungswelt, in der man mit etwa 16, 17 Jahren einen Schulabschluss macht, eine Ausbildung beginnt und anschließend in einen Beruf einsteigt.

Die Roma-Verbände beklagen, dass Roma-Kinder segregiert und in der Schule nicht unterrichtet würden, während aus dem Umfeld der Schule zu hören ist, dass Roma-Kinder – wenn überhaupt – dann nicht pünktlich und nicht vorbereitet zum Unterricht erscheinen würden. So könne eben nicht unterrichtet werden. Für uns sind beide Positionen nachvollziehbar. Gleichzeitig hören wir von beiden Seiten, dass die Eltern für ihre Kinder verantwortlich wären.

Doch was nützt dieser Diskurs dem Kind? Das Kind gerät in diesem unter die Räder. Häufig sind beide Elternteile mit ihrer Verantwortung überfordert. Wenn die Eltern über kein Verständnis für Bildung verfügen und nicht wissen, was acht Uhr ist, dann wird ihr Kind weder Hausaufgaben machen noch um acht Uhr in der Schule sein.Im BuKi-Haus haben wir – nach Rücksprache mit den Eltern – begonnen, jeden Morgen 10 bis 15 Kinder zu holen. Das waren schon besondere Momente, mit der Taschenlampe in der Hand an den Hütten anzuklopfen. Man hörte ein Rascheln und Murmeln, die Kinder kletterten über die Geschwister hinweg, die im selben Bett schliefen. Plötzlich standen sie schlaftrunken vor einem. Nach einem kurzen Frühstücksaufenthalt bei BuKi ging es weiter zur Schule.

Heute, fast 15 Jahre später, ist das Holen der Kinder eher die Ausnahme. Das Bewusstsein für Bildung hat sich im Viertel grundlegend verändert. Deutlich mehr Roma-Kinder erreichen heute die Schule, deutlich mehr Kinder lernen Lesen, Schreiben und Rechnen, deutlich mehr Kinder schließen die örtliche Schule ab und erreichen die weiterführenden Schulen im 40 Kilometer entfernten Sathmar.Ein wichtiges Leitmotiv von BuKi wird an dieser Stelle nachvollziehbar: BuKi nimmt die Roma-Kinder von Cidreag an der Hand, federt ihre sozialen Hürden ab und begleitet sie – wie über eine Brücke – heraus aus ihrer Roma-Lebenswelt in die örtlichen Schulen und die rumänische Gesellschaft.

Dabei beschränkt sich unsere Leistung nicht nur auf die Schulbegleitung der Kinder. Wir ermöglichen den Familien und Kindern auch den Zugang zur medizinischen Versorgung oder helfen ihnen beim Gang durch die staatliche Bürokratie. Ebenso nehmen wir kulturelle Veranstaltungen in Sathmar mit unseren Kindern wahr. Ohne BuKi bliebe ihnen der Zugang dazu verwehrt.

In diesem Sinne wirkt BuKi an der Schnittstelle zwischen den Ethnien und ihren Lebenswelten wie ein Katalysator.

Wie verändert sich das Leben der Kinder durch Ihre Programme – können Sie ein Beispiel nennen, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Es gibt einige Beispiele, wo wir Familien, vor allem auch alleinerziehende Mütter, im Armutskontext begleiten konnten. Viele Kinder in dieser Lebenssituation werden traumatisiert und aufgerieben. An eine erfolgreiche Teilhabe an Bildung ist in einer existenzbedrohten Situation kaum zu denken. Dennoch haben wir es geschafft, einige Familien zu stabilisieren und den Kindern einen erfolgreichen Einstieg in die Schule zu ermöglichen. Ohne BuKi wäre dies völlig undenkbar gewesen.

Wir bieten den Kindern Ernährung, Kleidung und Gesundheit. Wir geben den Kindern eine für sie so wichtige Tagesstruktur. Wir schenken ihnen Liebe und Geborgenheit. Wer in Armut – und damit mit wenig – aufwächst, benötigt nicht viel, um glücklich zu sein.Die Kinder sprechen zu Hause Romanes. Die Betreuung im BuKi-Haus findet in ungarischer Sprache statt. In ungarischer Sprache wird auch in der Schule unterrichtet. Neben vielen lebensnahen Aktivitäten bildet die Montessori-Pädagogik für die Vorschul- und Grundschulkinder einen wichtigen Schwerpunkt. Unsere intensive soziale Arbeit, Familienhilfen, die Unterstützung von Frauen und rein humanitäre Hilfen runden unser Programm ab.

Spannend ist Ihre Frage nach der Veränderung des Lebens der Kinder durch unser Programm. Ich glaube, dass sich insgesamt die eher konservativ-patriarchale Struktur im Viertel durch Bildung deutlich verändern wird. Denn durch Bildung werden vor allem auch die Geschlechterrollen von Mann und Frau im Roma-Viertel in Frage gestellt. Immer öfter hören wir von Mädchen, dass sie nicht sofort in eine Beziehung gehen und Kinder haben möchten. Tendenziell nimmt die Zahl der neugeborenen Kinder im Roma-Viertel ab. Die ersten Mädchen erreichen die weiterführenden Schulen in Sathmar – bis vor wenigen Jahren war dies noch undenkbar.

Diese Veränderungen im Leben der BuKi-Kinder von Cidreag kommen sicherlich nicht allein durch das Programm im BuKi-Haus zustande. Eine wichtige Rolle dabei spielt die veränderte Mediennutzung mit Laptops und Handys. Gleichzeitig öffnet sich das bis vor wenigen Jahren noch isolierte Roma-Viertel von Cidreag. Durch die hohe Anzahl an Roma, die in der Arbeitsmigration tätig sind, fließt Geld zurück in die Familien, und es kommt Wohlstand ins Viertel.

Bildung wird im Roma-Viertel mit einem spürbaren kulturellen Wandel einhergehen, der sich mit hoher Dynamik vollzieht und unmittelbar Einfluss auf das Leben der Kinder nimmt. Für die Identität der Roma in ihrer Gemeinschaft ist dies sicherlich eine große Herausforderung.

BuKi wird größtenteils durch Spenden getragen. Wie gelingt es Ihnen, die notwendige Unterstützung über so viele Jahre hinweg aufrechtzuerhalten?

Die laufenden Kosten im BuKi-Haus – wie etwa die Löhne unserer Kolleginnen und damit die sozialpädagogische Betreuung der Kinder, die soziale Arbeit im Viertel, das Vesper für unsere Kinder, die Arztbesuche mit den Familien und Kindern, die pädagogischen Materialien, die humanitären Hilfen, die täglichen Fahrtkosten von 80 Kilometern aus Sathmar nach Cidreag und wieder zurück, der Unterhalt unserer Gebäude – all das wird über Spenden aus Deutschland finanziert. Diese Spenden fallen nicht einfach so vom Himmel. Es ist die Aufgabe meiner Frau und mir, in Deutschland diese Spenden zu generieren. Und obwohl wir im Fundraising nun sicherlich eine gewisse Erfahrung mitbringen, ist es für uns jedes Jahr aufs Neue ein großer Kraftakt. Umso mehr freuen wir uns, dass wir jetzt im Oktober – nach gut fünf Jahren Vorbereitung – eine offizielle staatliche Anerkennung erhalten haben. Damit einher geht ein finanzieller Zuschuss, der uns bei den laufend steigenden Kosten Luft verschafft. Dennoch werden wir auch in Zukunft den überwiegenden Anteil der Finanzierung über Spenden durch BuKi Deutschland stemmen müssen.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit rumänischen Schulen, Behörden und lokalen Partnern? Erfahren Sie vor Ort Unterstützung?

Die Zusammenarbeit mit der Schule und den örtlichen Behörden findet auf einer vertrauensvollen Ebene statt. Wir haben in diesem Sommer etwa eine Spielstadt für Kinder – „Mini-Cidreag“ – auf dem Gelände von BuKi organisiert. Eine Woche lang konnten über 100 Roma- und Nichtroma-Kinder in 20 organisierten Betrieben ihre Fähigkeiten und Neigungen ausprobieren. Das Schulinspektorat Sathmar war dabei ein wichtiger Partner. Die örtliche Schule hat für „Mini-Cidreag“ und die Organisation der Betriebe Lehrerinnen freigestellt. Ihre Teilnahme war eine große Bereicherung für das Projekt.

Auch die Gemeinde Porumbe{ti leistet seit einigen Jahren eine finanzielle Unterstützung zu unseren Sommeraktivitäten. Das freut uns sehr. 

Mit der Stiftung Hans Lindner verbindet uns eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die BuKi-Kinder nehmen an Programmen der Stiftung teil, gleichzeitig war die Stiftung Hans Lindner bei „Mini-Cidreag“ mit der Organisation mehrerer Betriebe engagiert. 

Unvergessen bleibt die unbürokratische Kooperation während der Corona-Krise, als BuKi etwa 250 Personen über mehrere Monate mit Lebensmitteln vor dem Hunger bewahrte. Das waren prägende Momente.

Welche Perspektiven sehen Sie für BuKi in den kommenden Jahren – und was wünschen Sie sich von der deutsch-rumänischen Gemeinschaft für die Zukunft Ihrer Arbeit?

Das Roma-Viertel in Cidreag entwickelt sich mit einer enormen Dynamik. Als wir 2008 mit den ersten Hilfstransporten begannen, lebten mehrere Familien in Plastikverschlägen, und wir waren mit 30 bis 40 Elendshütten konfrontiert. Heute haben wir ein komplett verändertes Dorf. Von den Plastikverschlägen und Elendshütten ist fast nichts mehr zu sehen. Wohlstand kehrt in das Roma-Viertel ein. Doch dieser Wohlstand ist brüchig.

Eine große Anzahl an Menschen ist in der Arbeitsmigration tätig. Das im europäischen Ausland verdiente Geld fließt zu den Familien im Roma-Viertel zurück. Man erkennt dies an den vielen renovierten und neu gebauten Häusern, die die Hauptstraße säumen.In der Zwischenzeit haben auch einige ehemalige BuKi-Kinder die weiterführenden Schulen in Sathmar als Elektriker, Schreiner oder Industriemechatroniker mit dem Diplom in der Hand abgeschlossen. Der Sprung in besser bezahlte und sicherere Tätigkeiten in Rumänien gelingt ihnen jedoch nicht.

Auch sie sind in der Arbeitsmigration, in den gleichen Jobs wie alle anderen aus dem Viertel tätig und verdienen das gleiche Geld. Die einen waren elf Jahre in der Schule und haben ein Diplom, die anderen sind Analphabeten.Unsere Vision ist, Kinder mit Bildung aus der Armut zu führen. Und wir sehen, dass die Arbeit von BuKi Früchte trägt: Fast alle Kinder erreichen die örtliche Schule; mehr Kinder lernen Lesen, Schreiben und Rechnen; mehr Kinder bleiben länger im Schulsystem; mehr Kinder erreichen die weiterführenden Schulen im 40 Kilometer entfernten Sathmar.

Jetzt können die ehemaligen BuKi-Kinder lesen, schreiben und rechnen, verfügen über qualifizierende Schulabschlüsse und fallen frustriert in die Perspektivlosigkeit im Roma-Viertel zurück, weil der Anschluss an auskömmliche Beschäftigungsverhältnisse auf dem rumänischen Arbeitsmarkt fehlt. Das ist bitter – für uns und die jungen Erwachsenen. 

BuKi nimmt Kinder bei der Hand und führt sie – wie über eine Brücke – aus dem Roma-Viertel heraus in die Schule und die rumänische Gesellschaft. 

Auch aus dem Schulsystem heraus in den rumänischen Arbeitsmarkt benötigen die Jugendlichen eine engmaschige Begleitung. Diese Brücke ist nicht sichtbar. Wenn Sie mich nun fragen, was ich mir von der deutsch-rumänischen Gesellschaft für die Zukunft unserer Arbeit wünschen würde – nun, dann lassen Sie uns doch eine Brücke bauen.