Die Toilette von Kaiserin Sissi

Monica Vlaicu liest und registriert seit einem halben Jahrhundert Urkunden in Archiven

Oberarchivarin Monica Vlaicu an ihrem Arbeitsplatz im Teutschhaus Foto: die Verfasserin

Wer sich mit der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und deren Persönlichkeiten befasst, kommt an ihr genauso wenig vorbei wie jener, der Daten zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche in Rumänien sucht: an Oberarchivarin Monica Vlaicu. Am 2. August 1945 geboren und also morgen 80 Jahre alt, ist sie wochentags an ihrem Schreibtisch vor dem Computer im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (ZAEKR) anzutreffen. Fachkundig und freundlich erteilt sie Auskunft und eilt auch schon mal selbst ins Depot, um bestellte Unterlagen herbeizubringen. Auf die Frage, ob sie nun von der Arbeit Abschied nehmen werde, meint sie: „Ich freue mich, dass ich hier weitermachen darf, solange Kopf und Beine mich tragen“. Sie habe schon immer gerne gearbeitet und der Beruf des Archivars habe ihr Leben geprägt. „Es ist faszinierend, als erster eine Urkunde in die Hand zu bekommen, anhand derer etwas entdeckt oder eine Information ergänzt wird,“ stellt sie fest. Da nimmt man den Staub und oft auch Ungeziefer gern in Kauf.   

Monica Vlaicu, die zu den besten Kennern der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte gehört, stammt aus dem Banat. Ihre Mutter Edda Skrabal war Bistritzer Sächsin, die Familie kam aus der heutigen Slowakei nach Nordsiebenbürgen. Ihr Vater, Rumäne griechisch-katholischer Konfession, hatte in Klausenburg/Cluj-Napoca Jura belegt und besuchte 1940 die Ackerbauschule, die nach dem 2. Wiener Schiedsspruch nach Temeswar/Timioșara verlegt wurde. Dorthin zog die Mutter nach, um Emil Vlaicu zu heiraten. Die junge Familie ließ sich in Kleinbetschkerek/Becicherecul Mic nieder, wo der Vater die Buchhaltung der Mühle übernommen hatte und Monica Vlaicu geboren wurde. Seine nächste Stelle war in Banlok, wo sich das Gut von Königin Elisabeth (von Griechenland, Tochter von König Ferdinand) befindet und die Taufpatin von Monica Vlaicus jüngerer Schwester wurde. 

Studiert hat die spätere Archivarin zwischen 1963 und 1968 Germanistik in Temeswar und schrieb ihre Abschlussarbeit über die Wenkersätze der Lenauheimer und Grabatzer Mundart, also im Bereich Sprachgeschichte. Noch vor dem Staatsexamen suchte eine Kommission von der Archivverwaltung in Bukarest unter Absolventen nach potentiellen Mitarbeitern. Bedingung war, eine der drei in Siebenbürgen (in der Geschichte) genutzten Sprachen gut und die andere soweit zu beherrschen, dass Regesten angelegt werden können. Bei Monica Vlaicu waren das Deutsch und Latein. Ihre Schwester war mit einem Hermannstädter verlobt und sie entschloss sich, auch nach Hermannstadt/Sibiu zu ziehen. „Ich habe es nie bereut,“ sagt sie heute. Zu Beginn sei es ungewohnt gewesen, keine Zeit verlieren zu können auf breiten Boulevards und langen Straßen wie in Temeswar, doch lebte sie sich sehr rasch und gut ein. 

Im Staatsarchiv

Am 15. September 1968 trat Monica Vlaicu die Stelle im Staatsarchiv in Hermannstadt (korrekte Bezeichnung: Filiale Hermannstadt des heute Nationalarchiv Rumäniens genannten Historischen Zentralarchivs mit Sitz in Bukarest) an, hatte von 1991 bis 1997 dessen Leitung inne und ging 2002 von da in Rente. 2003 arbeitete sie im Historischen Museum mit und übernahm 2004, als das Zentralarchiv der evangelischen Kirche im Teutschhaus eröffnet wurde, die Stelle der Oberarchivarin. „Ich gehöre wahrscheinlich zu den wenigen Archivaren, die länger als ein halbes Jahrhundert Urkunden gelesen haben“, stellt sie fest. Mit großer Hochachtung erzählt sie von ihren „Lehrern“ im Staatsarchiv, Archivaren der „alten Schule“ mit breitem Wissen, wie Dr. Herta Gündisch, Domnica Avrigeanu, der Gattin des Malers Petru Avrigeanu, der aushalf, wenn Ungarisch gefragt war, oder Fritz Sonntag. 

Bearbeitet haben sie Bestände aus dem Mittelalter, die Neuzeit war damals gesperrt. Monica Vlaicu hat die Urkunden, meistens ab dem 16. Jahrhundert, der Institutionen Hermannstadts – Stadt und Stuhl – geordnet und registriert, wie zum Beispiel des Magistrats, aber auch wichtige Nachlässe. 

Die Geschichte lernte sie in Kapiteln und zwar jeweils für jene Periode, aus der sie von ihr bearbeiteten Institutionen stammten, um die zu verstehen, sagt sie. Alle Archivare mussten aber auch jährlich eine Prüfung in Geschichte und Latein ablegen. In Latein wurde jedoch das klassische abgefragt, „das siebenbürgische Latein hat nichts mit dem Latein von Cäsar zu tun, es ist eine ganz eigene Sprache, mit neueren Begriffen auch aus den Umgangssprachen“, erläutert die Archivarin. Dasselbe gilt für das Urkunden-Deutsch: Bei der Herausgabe des umfangreichen Bandes „Handel und Gewerbe in Hermannstadt und in den Sieben Stühlen (1224-1579) machte sie die Feststellung, dass das in jenem Kontext genutzte „Hochdeutsch“ mit Wörtern aus dem Dialekt, aber auch verdeutschten ungarischen und rumänischen Wörtern bestanden hat. Eine Sprachforscherin ist im Archiv also schon am richtigen Platz.   

Nach einem ideologischen Zwang gefragt – in der kommunistischen Zeit wurde die Geschichte im Personenkult und nationalistisch-heroisierenden Geschichtsbild instrumentalisiert und das historische Archiv gehörte (und gehört immer noch!) dem Innenministerium an – erläutert Monica Vlaicu, dass die Archivare Zivilangestellte waren, dennoch aber jährlich eine „Parteiprüfung“ beim Sitz der Miliz, zusammen mit den anderen Zivilangestellten des Ministeriums (aus Verwaltung, aber auch Putzpersonal) abzulegen hatten. „Es war eine Formalität, wir lasen einen Zeitungsartikel, machten Notizen und leierten den Inhalt herunter.“ Sonst wurden sie nicht behelligt, denn: „Wir hatten großes Glück mit unserem Direktor, Nicolae Nistor, einem Historiker mit Klausenburger Schule, der seinen Abschirmmantel über uns gehalten und alles eingesteckt hat“. Zugute kam den Archivaren desgleichen, dass der Direktor sehr streng war. Die Planarbeit (an Bestand-Bearbeitung) nicht zeitgerecht abzugeben, kannte man nicht, doch riet er ihnen, sich die Arbeit so einzuteilen, dass täglich zwei Stunden für eigene Forschungen übrigbleiben. Die Ergebnisse dergleichen Arbeiten wurden bei dem zweimal jährlich unter dem hochtrabenden Titel „Învățământ profesional“ vorgestellt – de facto war es ein Austausch zu Fachthemen – vorgestellt oder in Historikerpublikationen sowie der Fachzeitschrift „Revista arhivelor“ veröffentlicht. Im Verlauf der Jahre veröffentlichte Monica Vlaicu Beiträge zum sozial-politischen aber auch kulturellen Leben in Siebenbürgen anhand der eingesehenen Urkunden desgleichen in Sammelbänden.  

Die Paläografie

Die mittelalterlichen, aber auch späteren Urkunden sind – Schreibmaschinen gab es noch lange nicht – von Hand verfasst worden, genutzt wurden zu jener Zeit meist nicht lateinische, sondern gotische Lettern. Dass jede Handschrift Eigenarten hat, ist klar, in der barocken Zeit kamen Verschnörkelungen der Anfangsbuchstaben eines Absatzes oder Kapitels dazu. Viele dieser Urkunden sehen wunderschön aus, sie aber zu entziffern setzt nicht bloß Sprach- und Sachkenntnisse voraus, sondern auch ein geübtes Auge und Erfahrung. Eine wichtige Hilfswissenschaft der Historiker und Archivare ist die Paläografie und diese sei – so Monica Vlaicu – besonders faszinierend. Festzustellen, wie sich die Buchstaben im Laufe der Zeit je nach Schreibunterlage – Pergament, Papyrus, Papier – und deren Qualität und sodann Schreibgerät – (Gänse)Feder und -stiel, Metallfeder, usw. – verändert haben, ist sehr spannend, sagt sie. Jedes Element beeinflusste die Form der Buchstaben, um die Wörter dennoch entziffern zu können, benötigt es Wissen und Erfahrung.  
Das „Lesen aus alten Epochen“ wurde in Klausenburg und Bukarest vorgetragen, zusammen mit dem Kronstädter Archivar Gernot Nussbächer bot Monica Vlaicu Paläographie-Kurse an. Das tat sie auch nach der Verrentung im ZAEKR, besucht wurden die Seminare von Mitarbeitern der Hermannstädter Museen und Bibliotheken, nach einigen Jahren versandete die Initiative jedoch, weil die Institutionsleiter es ungern sahen, dass sich die Mitarbeiter während der Dienstzeit fortbildeten. Sehr schade ist, dass ihre Idee, ein Lehrbuch oder -heft der deutschen Paläografie herauszugeben, nicht verwirklicht wurde, denn heute gibt es hierzulande kaum Forscher, die alte Handschriften entziffern können. Zum Negativen verändert hat sich leider insgesamt der Respekt vor den Urkunden, stellt Monica Vlaicu fest: „Wir hatten fast Angst davor, eine Urkunde zu beschädigen, einzubiegen, das Siegel zu verrutschen, jetzt wird damit, aber auch anderen Kulturerbe-Gegenständen, völlig unsachgemäß umgegangen.“

Im Teutschhaus

Die Paläografie benötigt sie im ZAEKR wenig, wohl aber das gute Auge zum Entziffern von Handschriften. Im Teutschhaus befinden sich die Bestände der EKR aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die älteren sind im Staatsarchiv. Als zu Beginn der 1990er Jahre nach dem Exodus der Sachsen mit dem Einsammeln der Kirchenarchive und -güter aus den verlassenen Ortschaften begonnen und das heutige Friedrich-Teutsch-Kulturzentrum mit Museum, Bibliothek und Archiv der EKR angedacht worden war, hatte Altbischof DDr. Christoph Klein bei Monica Vlaicu angefragt, ob sie geneigt wäre, im neuzugründenden Archiv mitzuarbeiten. „Ich habe sofort zugesagt“, sagt sie. In jener Zeit fragte Dr. Wolfram Theilemann, damals der Leiter einer Fachgruppe, die das Archiv dank eines Förderprojektes aufgebaut hat, öfters um Rat bei ihr an. Angelegt wurde das ZAEKR nach der von Dr. Helmut Baier, dem Leiter des Landeskirchlichen Archivs der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, mitgebrachten archivalischen Strukturierung. Dr. Baier war in den Gründungsjahren des Kirchenarchivs öfters in Hermannstadt und half auch bei der Beschaffung der Ausstattung. 

Im ZAEKR bearbeitet Monica Vlaicu hauptsächlich Familien- und persönliche Nachlässe, für bald hundert (!) hat sie bereits die Findbücher erstellt. Den größten Anteil bilden die Pfarrer, von denen einige hervorragende kulturelle Persönlichkeiten waren. Zu nennen wären zum Beispiel die Nachlässe von Viktor Roth, auch Kunsthistoriker und Ehrenmitglied der rumänischen Akademie, Ludwig Klaster, Pfarrer in Urwegen/Gârbova und Ethnograf, von dem u.a. die Glasplatten der Fotos erhalten sind, in denen eine Bockelung in ihren jeweiligen Sequenzen dargestellt wird. Im Teutschhaus befindet sich sodann der Nachlass der Schäßburger Dichterin Ursula Bedners, der Vorlass des Schriftstellers Eginald Schlattner, aber auch der Nachlass des Schriftstellers und ehemaligen Neuer-Weg- und ADZ-Redakteurs Hans Liebhardt. Zurzeit bearbeitet sie den Nachlass der Sprachforscherin und langjährigen Mitarbeiterin am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch Anneliese Thudt. 

Nach der politischen Wende gab Monica Vlaicu (meist in der Reihe Schriften zur Landeskunde Siebenbürgen) mehrere Bände mit Briefen an bedeutende Persönlichkeiten wie den Juristen und Politiker Jakob Rannicher (1823-1875), den Bischof, Historiker und Politiker Georg Daniel Teutsch (1817-1893) oder die Korrespondenz und Vorträge des Pfarrers, Linguisten, Volkskundlers und Politikers Adolf Schullerus (1864-1928) heraus. Warum Briefe? „Briefe sind die interessantesten und aufschlussreichsten Schriftstücke in einem Nachlass oder Bestand“, sagt Monica Vlaicu. „In ihnen entpuppt der Mensch sich anders, als man ihn aus der Presse, aus Ansprachen oder Überlieferungen kennt. Briefe werfen einen Blick aber auch in die Zeitgeschichte.“ Sehr schön und spannend seien zum Beispiel die Briefe von Jakob Rannicher an seine Frau oder den Metropoliten Andrei Șaguna. Als Reichstags-Abgeordneter nahm er an der Krönung des österreichischen Kaiserpaars zu Königen von Ungarn teil und beschreibt in den Briefen an seine Frau – Handys zum Fotografieren zückte man damals nicht! – die Toi-letten von Kaiserin Sissi und die gesamte Atmosphäre. Auch erzählte er darin, dass die Taschenräuber sogar aus Paris und London zum Ereignis mit hunderten Gästen gekommen seien und wo sie sich einquartiert haben. Pikante Details, die den ernsten und trockenen Problemen, mit denen sich jede Generation auseinanderzusetzen hatte, Farbe verleihen.

Meistens sind nur die an die betreffenden Persönlichkeiten gesandten Briefe vorhanden, die von ihnen verfassten sind bei den Adressaten. Dennoch sind sie sehr aufschlussreich, da es sich um Antworten in einer Diskussion handelt, die Rückschlüsse auf den Inhalt der gesandten Briefe erlauben. Briefe – eine Quelle für Forschungen, die versiegt.