„Früher habe ich mit Lyriklesungen angefangen, da waren meistens drei Leute da. Immer wenn mehr da sind, freue ich mich!“, sagte der Autor Dinçer Güçyeter, als er vor Kurzem im Goethe-Institut in Bukarest war. Wenn man es so sieht, war sogar das Fünffache an Publikum da, nämlich ungefähr 15 Leute. Doch auch wenn ein paar Sitze frei blieben, sprudelte Güçyeter an diesem Abend geradezu vor Geschichten, Worten und Gedanken über seinen Roman, seine Familiengeschichte und die Welt allgemein.
Das ist auch nicht allzu verwunderlich, denn Güçyeter wirkte schon sein ganzes Leben an den unterschiedlichsten Theaterstücken mit. Deswegen ist ihm das Auftreten auf der Bühne mehr als vertraut. Das zeigt sich auch dabei, wie er seine eigenen Texte vorliest: sehr betont, geradezu performativ und dabei beweist er stets ein unheimliches Sprachgefühl. Doch auch abseits seiner Texte redet er gern und erzählt vor allem Geschichten, die einer anderen Geschichte folgen und zur nächsten Geschichte führen.
Durch die ausführlichen Geschichten und den Abend leiteten die beiden Moderatoren Sînziana Mocanu (spricht unter anderem online über Bücher) und Radu Apostol (unter anderem Theaterregisseur). Auch die Übersetzerin Adina Olaru – die Güçyeter ins Rumänische übersetzte – musste sich einige Notizen machen, um die langen Geschichten korrekt wiederzugeben. Das war, wie sie danach im Gespräch mit der ADZ erklärte, für eine geübte Übersetzerin jedoch kein Problem.
Doch was hat es mit diesen Geschichten und diesem „Deutschlandmärchen“ auf sich? „Güçyeter erzählt in seinem Buch vom Schicksal türkischer Griechen, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von der Herausforderung, als Gastarbeiterin und als deren Nachkomme in Deutschland ein neues Leben zu beginnen“, so beschreibt der deutsche Verlag S. Fischer auf seiner Website sein Buch. Die Familie im Roman, die seine eigene Familie repräsentiert, zog 1965 an den Niederrhein. Die Mutter Fatma arbeitete in der Fabrik, beim Spargelstechen und in der Kneipe, die ihr Mann in Nettetal eröffnet hatte.
Im Text und in seinen Geschichten schreckt der Autor nicht vor schweren Themen zurück. „Mein erstes Arbeitsangebot kam von meinem Onkel, der ein Bordell hatte. Ich musste die Pornofilme alphabetisch sortieren und die benutzten Kondome in den Zimmern einsammeln.“ Dabei ist ihm insbesondere der Titel „Die wilde Heidi auf der Heide“ in Erinnerung geblieben, wie er scherzhaft, trotz des schweren Themas, erzählt.
Er erzählte auch, wie ihn die Blocks in Bukarest, als er für die Lesung das erste Mal in der Stadt war, an die Berge Ararat in der Türkei erinnert haben.
Darüber hinaus berichtete er, wie er vergangenes Jahr über 40 Schulen in Deutschland besucht hat, um Schüler zum Schreiben zu motivieren. Dabei hat er gemerkt, dass auch junge Menschen klar ihre Gedanken und Lebensumstände reflektieren und literarisch wiedergeben können. „Jeder hat seine Geschichte. Ich wünsche mir, dass jeder seine Geschichte schreibt!“
Diese einzelnen Gedanken scheinen kaum etwas miteinander zu tun zu haben. Doch genau so berichtet der Autor, denn all diese Geschichten sagen für ihn etwas über das Leben und das Schreiben allgemein aus.
Doch eigentlich geht es ihm, auch wenn er gerne erzählt, nicht um sich, sondern um die Frauen, die ihn in seinem Leben begleitet haben, und vor allem um seine Mutter.
Fatma, die Mutter des Erzählers im Text, die seine eigene Mutter repräsentiert, wurde verheiratet mit einem Mann und ist mit ihm dann wie beschrieben 1965 nach Westdeutschland gegangen. Damals wurde in der Türkei über die Bundesrepublik gesagt, dass man dort „das Geld von den Bäumen pflücken kann“. Dass das nicht mit der Realität übereinstimmt, hat Fatma schnell gelernt, jedoch hat sie sich nie unterkriegen lassen.
Außerdem war sie laut Güçyeter eine Feministin, weil sie unter anderem schnell das Autofahren lernte und einen Führerschein machte, was in der 60ern in der BRD für Frauen nicht unbedingt üblich war, insbesondere auf dem Land.
Auf der anderen Seite übte sie auf Güçyeter oft Druck aus, mehr wie ein „echter, harter Mann“ zu sein, obwohl er sich, wie er selbst beschreibt, eher wie ein „Einhorn gefühlt hat“ und Bücher und das Theater geliebt hat. „Ich wollte schon immer außergewöhnlich sein und einfach geliebt werden.“ Auch mit diesem Konflikt zwischen Freiheitsdrang und den konservativen Wertevorstellungen, die an ihn gestellt wurden, geht es in seinem Text, der auf Rumänisch „O poveste despre Germania noastră“ heißt und von Manuela Klenke im Auftrag des Tact-Verlag ins Rumänische übersetzt wurde.
Doch warum schreibt er über das Ganze? Über die Armut und all den Schmerz in seiner Familiengeschichte? „Es gibt keine Geschichte, die unverletzt ist. Es gibt in jedem Haus eine Fatma. Meine Tochter ist 17 und hat mich mal gefragt, ob ich nicht etwas zurückhaltender sein könnte. Aber ich habe viele meiner Lieblingsmenschen ins Grab gebracht, meinen Vater, meine Oma, das alles ist nicht nur meine Geschichte. Ich lasse mich von niemanden aufhalten, sie zu erzählen. Ich erlaube mir diese Freiheit!“ Dadurch möchte er auch „die Stimme meiner Mutter verbreiten.“





