Eine 30-jährige Reise mit vielen Abwegen

Im Dezember 1989 bezahlten Rumäniens Bürger den Preis der Freiheit

Auch wenn die Ewige Flamme manchmal erlischt und noch vor ein paar Tagen das Pflaster vor dem Denkmal für die Opfer der Revolution auf dem Friedhof in Temeswar arg beschädigt war, ist zur Feier des 30. Jahrestags der Revolution nun alles perfekt. Foto: Zoltán Pázmány

Heute vor 30 Jahren, am 17. Dezember 1989, sind in Temeswar die ersten Helden der Rumänischen Revolution gefallen. Gegen Mittag haben Einheiten der Armee das Feuer gegen die Demonstranten eröffnet, nachdem diese, unter anderem, das Kreisparteikomitee der RKP zuvor verwüstet hatten. Zwei Tage davor hatten sich Gemeindemitglieder der ungarisch-reformierten Kirche vor ihrem Gotteshaus „an der Maria“ versammelt, um ihren Pfarrer vor der gerichtlich angeordneten Zwangsevakuierung zu schützen. Am 16. Dezember nahm der Protest stark zu und erweiterte sich auf fast die gesamte Stadt, am 17. schlug das Regime mit aller Kraft zurück.

Was nachher geschehen ist, dürfte bekannt sein. Oder auch nicht. Vergangen sind nun 30 Jahre seit jenem blutigen Dezember 1989 und dem plötzlichen Zusammenbruch der Diktatur, doch über die damaligen Ereignisse herrscht weiterhin Unklarheit, trotz der unzähligen Aufarbeitungsversuche. War es eine Revolution? War es ein Staatsstreich, eventuell von außen geleitet, so wie Ceaușescu wohl bis zur Sekunde der Schüsse von Târgoviște geglaubt haben mag und so wie auch heute noch viele überzeugt sind? Oder war es ein echter Volksaufstand, gefolgt in der Tat von einem Coup in Ungnade gefallener Kommunisten, unterstützt von der Sowjetunion? Allein wenn man sich die Aufnahmen mit der sich wie aus dem Nichts gebildeten neuen Staatsführung unter Ion Iliescu anschaut und sich dessen Sprache anhört, muss es zumindest aus heutiger Sicht klar sein, dass da keine Demokraten – wie in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn – am Werk waren, sondern altgediente Apparatschiks, die verstanden hatten, dass die Welt im Aufbruch und der entrückte Ceau{escu nicht mehr tragbar war.

Doch keineswegs wollten sie die Macht verlieren. Ganz im Gegenteil: Sie wollten an die Macht, sie bekamen sie und hielten an ihr fest. Dafür ließen sie das verhasste Diktatorenpaar hinrichten, denn sie wussten, dass infolge einer zweieinhalb Jahrzehnte andauernden Alleinherrschaft das Volk die beiden am meisten hasste und erst dann und, nur unter Umständen, den Kommunismus. Dafür erfanden sie die Terroristen, tauchten das Land für ein paar Tage in Chaos und schickten die Armee los, damit Soldaten auf Bürger und versehentlich auf andere Soldaten schießen, ein paar Tage nur, bis die neuen Alten an den Machthebeln saßen und die sowjetische Botschaft informiert war. Dann wurde die Todesstrafe abgeschafft, Abtreibungen wurden wieder erlaubt, die Securitate und die RKP aufgelöst und die Geldreserven des untergegangenen Regimes für Lebensmittelkäufe benutzt. 1990 gab es wieder Bananen und die Arbeiterklasse – mit ihrem weiterhin hohen Klassenbewusstsein, wie Ion Iliescu noch im Juni 1990 sagte – war vorerst zufrieden. Wirklich aufgelöst wurden weder die Securitate, noch die RKP, sie verschwanden nur kurz unter dem Mantel der Armee und der Front der Nationalen Rettung. Dass ranghohe Mitglieder des Politbüros, die in den makabren 1980er Jahren Ceaușescu die Treue hielten, von den neuen Machthabern verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, spielt keine Rolle mehr, ihre Prozesse dienten eher der Volksunterhaltung. Einige wurden sowieso von ihrem früheren Parteifreund Ion Iliescu begnadigt, wiederum andere wegen Alter und Krankheit vorzeitig entlassen.

Den Preis zahlten andere, die Toten und Verletzten. Laut der Regierungsstatistik sind in Temeswar 93 Bürger gestorben, in Bukarest 564, in Arad 19, in Kronstadt 39, in Klausenburg 29, in Konstanza 32, in Brăila 42, in Hermannstadt 99, deutlich weniger Tote gab es in Heltau, Hunedoara, Neumarkt, Miercurea Ciuc und Pitești. Die Bukarester Statistik bleibt merkwürdig: 49 Bürger sind bis zum 22. Dezember um 12.08 Uhr gestorben, 515 nachher. Um die Uhrzeit hob der Hubschrauber mit dem Diktatorenpaar vom ZK ab, die neue Zeitrechnung begann. Der Nachwende-Staat betrachtet den 22. Dezember als letzten Tag der kommunistischen Gewaltherrschaft, doch in der Hauptstadt fing die Gewaltorgie erst dann richtig an.

Dass das sozialistische System nicht überlebensfähig war, dürften einige in der neuen Führung relativ schnell begriffen haben, irgendwann verstand es auch ihr Ziehvater, Iliescu, der Sozialist mit menschlichem Antlitz, der sich unbedingt mit den Sowjets beraten wollte. Über die Wege in die Marktwirtschaft war man sich uneins, auch über das Tempo wurde nach 1989 heftig gestritten. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere wurde durch die vielen Fehler der demokratisch gewählten Regierungen noch einmal deutlich verschärft.

Auch 30 Jahre nach der Revolution lässt sich nur eines mit Sicherheit sagen: Rumänien bleibt ein Land der Zweideutigkeit, ein Land der Paradoxe. Glaubt man an den Mythos der Revolution, so war der Dezember 1989 in der Tat ein Augenblick der Würde, der wiederhergestellten Würde eines Volkes, das 1945 vom Kommunismus ganz und gar nicht begeistert war, es sich aber später gemütlich machen wollte. Der heldenhafte Widerstand der Temeswarer, der Mut der Bukarester, sie bezeugen zweifelsohne eine einzigartige Leistung von Menschen, die frei werden wollten. Was im Anschluss geschah, ist dagegen eine wenig rühmliche Geschichte, die gerade die Herausbildung eines Narrativs verhindert hat, die für die Konsolidierung einer liberalen Demokratie unabdingbar gewesen wäre. Auch wenn der Dezember 1989 langsam zum Studienobjekt der Historiker wird, so scheiden sich diesbezüglich weiterhin die Geister: Der neu aufgerollte Prozess gegen Ion Iliescu bezeugt das. Dieser Prozess selbst ist von Zweideutigkeit geplagt, denn als eine Genugtuung für Opfer und Hinterbliebene kann er nicht betrachtet werden. Die Rolle Iliescus in den damaligen Ereignissen wird nach seinem Ableben wirklich nur noch Historiker beschäftigen.

30 Jahre danach ist Rumänien Mitglied der Europäischen Union und der NATO. Es befindet sich trotz aller Rückschläge, trotz des schwierigen Aufbaus von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, in einer historisch glücklichen Lage. Aber die EU ist von Existenzkrisen bedroht und auch die NATO fühlt sich nicht besonders wohl. Und trotz Rumäniens nie vorher gekannten Wohlstands verlassen weiterhin Tausende das Land. Es ist dies wohl der hohe Preis, den ein Land wie Rumänien (und letztendlich alle MOE-Staaten) an Westeuropa zahlen muss: EU-Integration bringt Wohlstand, aber durch die unverminderte Arbeitsmigration gen Westen wird der dortige Wohlstand gefestigt. Silviu Brucans 20 Jahre sind vorbei, doch die Unterschiede zwischen Rumänien und West- und Mitteleuropa sind weiterhin da, unübersehbar wie eh und je.
Hoffnungen gibt es zuhauf, aber man könnte jede Sekunde an etwas verzweifeln: an der Korruption, an der unsäglichen Bürokratie, an der Minderqualität der Politiker, an einem kaputten Bildungssystem, das Halbanalphabeten am laufenden Band produziert. Ceaușescus Rumänien ist untergegangen, doch die Narben einer Epoche des Schauderns sind längst nicht verheilt. Das Unheil von 45 Jahren kommunistischer Misswirtschaft und von 25 Jahren Personenkult und Speichelleckerei konnten 30 Jahre im Zickzackkurs nicht überwinden. Irgendwann in den 1990er Jahren hat man die richtige Richtung erkannt, doch es gab viele Abwege, den jüngsten unter dem Möchtegerndiktator aus Teleorman. Dass er hinter Gitter gelandet ist und seine PSD, die wichtigste Erbin der RKP, nun ihre Wunden lecken muss, ist ein Beispiel dafür, dass es hierzulande immer wieder gelingt, aus Sackgassen zurückzukehren.

Dieser Tage wird viel von der Rumänischen Revolution gesprochen, deutlich mehr als in den Vorjahren. Dies ist eindeutig gut, denn vor allem junge Generationen haben wenig Ahnung von den damaligen Ereignissen. Und es wird – es geht nicht anders – auch viel gestritten. Weiterhin hält sich die Frage, ob es früher doch nicht besser war. Ob Ceaușescu nicht doch ein Patriot war, dessen Traum von einem unabhängigen Land an inländischen Verrätern scheitern musste.
Es sind dieselben Mythen und Geschichten, die Ceaușescus Nationalkommunismus gefördert hat und die auch nach der Wende die Gesellschaft vergiftet haben. Gerade deshalb muss wiederholt und erklärt werden, nein, es war nicht besser als es heute ist. Nie, auch in den Endsechzigern nicht. Weder politisch, noch ökonomisch oder gesellschaftlich. Eine Diktatur ist einer Demokratie nie vorzuziehen, auch keine „erleuchtete“. Nicht nur, dass Ceaușescus Herrschaft nicht geleuchtet hat, sie hinterließ ein ruiniertes Land. Einen Dritte-Welt-Staat, das Äthiopien Europas, wie die westliche Presse Mitte der 1980er Jahre geschrieben hatte. Nahezu 23 Millionen Menschen waren gefangen in der begrenzten Gedankenwelt eines Verrückten und seiner Umgebung, die ihm aus Angst und byzantinisch-orientalischem Kriechertum eintrichterte, er sei der Größte und der Beste. Dass ihn einige seiner Weggefährten hinrichten ließen, überrascht deshalb wenig.

Aber dass gerade der, der sich heute vor Gericht für die Toten von vor 30 Jahren verantworten muss, erklärt, dass das wichtigste Erbe der Revolution die Demokratie ist, dass sie jedoch nicht gegeben ist und deshalb ständig verteidigt werden muss, und dass die beste Verteidigung nur starke, demokratisch legitimierte Institutionen liefern können, zählt zu den Paradoxen dieses Landes. Ion Iliescu hat das gesagt, aus Anlass des 30. Jahrestags der Rumänischen Revolution. Er, der zum einen für das Fortbestehen alter Strukturen, für die Bereicherung von Securitate- und RKP-Bonzen und für die Stagnation der 1990er Jahre verantwortlich ist, und zum anderen, wohl widerwillig, aber immerhin, für EU-Integration und NATO-Beitritt gearbeitet hat. Er, den Helmut Kohl in den 1990ern nicht sehen wollte, aber 2002 George Bush Jr. in Bukarest empfangen durfte. Man wird wohl erwidern, dass internationale Entwicklungen ausschlaggebend waren und dass die Weichen der West-Bindung durch Emil Constantinescu und die marktwirtschaftlich orientierten Regierungen der Jahre 1996 bis 2000 gestellt wurden. Das stimmt, doch die Symbolkraft der Zeitgeschichte sollte nicht unterschätzt werden.

Rumäniens Bürger haben 2012, 2017 und 2018 bewiesen, dass ihnen die Demokratie wichtig ist und sie bereit sind, diese zu verteidigen. Man hat es auch 2019 bei den Wahlen für das Europäische Parlament und bei den Präsidentschaftswahlen gesehen: Ein Großteil der Bevölkerung hat sich an den Sinn von Wahlen erinnert, auch wenn die Quintessenz der Demokratie, von der Ion Rațiu 1990 sprach, nicht unbedingt begriffen wurde. Wenn 30 Jahre nach dem blutigen Dezember 1989 noch immer kein Museum für die Rumänische Revolution eingerichtet werden konnte, wenn in diesem Jahr die Ewige Flamme auf dem Temeswarer Heldenfriedhof zweimal erloschen ist, weil jemand in der Verwaltung vergessen hatte, die Gasrechnung zu bezahlen, waren die Opfer keineswegs umsonst. Sie haben den Bürgern Rumäniens jene Freiheit erkauft, die letztendlich nur einen Preis hat, jenen des eigenen Lebens.