Fußball, Flagge, Vaterland

Deutscher Patriotismus zur EM-Zeit

Selbst Historiker können nicht mit Sicherheit sagen, woher die Farben der deutschen Flagge stammen. Vermutlich gehen schwarz, rot und gold auf die Uniform des Lützower Freikorps zurück, der in den Befreiungskriegen 1815 gegen Frankreich kämpfte. Mit der deutschen Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann die Flagge an Popularität. Spätestens zur Revolution von 1848 war sie zum Symbol nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit aufgestiegen. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 wurde die Fahne jedoch durch Schwarz-weiß-rot ersetzt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs nahm die Regierung der Weimarer Republik (1918-1933) die traditionellen Farben von 1848 wieder an. Deutschland wurde erstmals demokratisch. Monarchisten und Nationalsozialisten bekämpften jedoch nicht nur das demokratische System, sondern auch die deutsche Flagge, die sie als „Schwarz-rot-Senf“ verunglimpften. Die Nationalsozialisten (1933 - 1945) ersetzten sie schließlich durch das Hakenkreuz. Im Jahr 1949 beschloss der Parlamentarische Rat, dass Schwarz-rot-gold die offiziellen Farben der Bundesrepublik Deutschland werden sollten. Auch die DDR entschied sich dafür, fügte aber das sozialistische Hammer-und-Zirkel-Emblem hinzu. Im Bild die München-WM 2006 | Foto: Uwe Hermann

Kailey

Fiona

Deutschlands Beziehung zum Patriotismus? Kompliziert. Hitzige Debatten über die deutsche Flagge sind während großer Fußballturniere Tradition geworden. Doch was denken junge Deutsche heute über ihr Nationalsymbol? Pünktlich zur Heim-EM tauchen wir in die Debatte und ihre historischen Ursprünge ein. 

Auf meinen Reisen bin ich verschiedensten Formen von Alltags-Patriotismus begegnet. Ich traf Amerikaner, die im Supermarkt T-Shirts mit der Aufschrift „I love my country“ trugen, und Ukrainer, die stets mit ihrer Nationalflagge im Gepäck verreisten. Ein denkwürdiger Moment war eine nächtliche Fahrt mit der U-Bahn in Lyon. Frankreich hatte gerade im Rugby gewonnen und die Menschen sangen „La Marseillaise“ mit solch einem Enthusiasmus, dass der Waggon bebte. Für mich als Deutsche sind solche öffentlichen Bekundungen von Stolz und Vaterlandsliebe ungewohnt, wenn nicht sogar befremdlich. Patriotismus ist weder Teil des deutschen Bildungssystems, wie der „Pledge of Allegiance“ in den USA, noch wird er an nationalen Feiertagen zelebriert. Das mag für Menschen aus anderen Ländern auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. 

In vielen Ländern wird Patriotismus besonders an nationalen Feiertagen sichtbar. So auch am Canada Day, der am ersten Juli begangen wird. Die kanadische Regierung zeichnet auf ihrer Homepage das Bild eines fröhlichen Festes, an dem die Kanadier „ihren Stolz auf ihre Geschichte, Kultur und Errungenschaften“ feiern. Einen solchen Satz würde man auf der Homepage des Deutschen Bundestages vergeblich suchen. Kailey (22), eine kanadische Studentin, sagt über die Feierlichkeiten: „Wir tragen alle rot und zünden nachts ein Feuerwerk. Es ist üblicherweise ein Familienfest.“ Für sie hat Patriotismus einen praktischen Sinn: „Ich glaube, dass Patriotismus ein gutes Gemeinschaftsgefühl vermitteln kann (...) Ohne ihn würden viele Menschen ein Stück ihrer Identität und Kultur verlieren.“ Trotzdem teilt sie den Nationalstolz ihrer Landsleute nur bedingt. Das liegt vor allem an der anhaltenden Wohnungskrise, der Missachtung indigener Interessen oder auch am Mangel psychiatrischer Unterstützungsangebote im Land. Ohne Patriotismus wäre die Welt besser dran, findet Kailey: „Er fördert schädliche Ideologien, bei denen die Menschen glauben, ihr Land sei das beste (…) Ohne Patriotismus könnten wir offener für Probleme in der Welt sein.”

Nichts zu feiern in Deutschland

Damit entspricht Kailey eher der deutschen Denkart. So fallen die Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober sparsam aus. Niemand zündet anlässlich der Wiedervereinigung von Ost und West ein Feuerwerk, lackiert sich die Nägel in schwarz, rot und gold oder schwenkt begeistert die deutsche Fahne. Eine Zurschaustellung von Patriotismus wie andernorts üblich – in Deutschland undenkbar. 

Sommer 2014, das Jahr, als Deutschland die Fußball-Weltmeisterschaft gewann: Das Lied „We Are One” von US-Rapper Pitbull dominierte weltweit die Charts, als es zur offiziellen Hymne der WM in Brasilien gekürt wurde. „Ich glaube fest daran, dass dieses großartige Spiel und die Kraft der Musik dazu beitragen werden, uns zu vereinen, denn wir sind am besten, wenn wir eins sind“, äußerte sich Pitbull anlässlich seines Erfolgs. Nationalflaggen als ein Zeichen für Einigkeit? In Deutschland sehen das viele anders, wie die wiederkehrende Debatte zur deutschen Fahne in den Medien zeigt. Ein prominentes Beispiel ist Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien. Während der WM 2018 in Russland mahnte die Grünen-Politikerin zur Vorsicht: „Ich finde, dass es uns Deutschen gut zu Gesicht steht, wenn wir Zurückhaltung walten lassen mit der nationalen Selbstbeweihräucherung“. 

So klar wie für Roth ist die Sache für viele Deutsche nicht. Doch es hat Gründe, warum Patriotismus ein sensibles Thema bleibt. Seit den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus ist er vielen suspekt. Diese Haltung ist einzigartig unter Industrieländern, sagt Historiker Harald Biermann im Gespräch mit der Deutschen Welle. Erst mit der Heim-WM 2006 wurde die deutsche Flagge wieder zu einer beliebten Dekoration. Ein denkwürdiger Meilenstein in der Geschichte des deutschen Nachkriegs-Patriotismus, wenn auch nur auf den Fußball beschränkt. Bis heute hat sich die Euphorie von 2006 als „Sommermärchen“ in das kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt.

Vor langer Zeit 

Der Sommer 2006 hat etwas verändert, das bis heute nachhallt. Im Jahr 2024 sieht die Mehrheit der Deutschen ihre Fahne gerne in der Öffentlichkeit. Nur gut ein Viertel lehnt dies ab, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Katholischen Nachrichten-Agentur aus dem April 2024. Doch 2006 ist lange her. Die meisten Jugendlichen in Deutschland haben keine klaren Erinnerungen an die WM oder waren noch gar nicht geboren. Meine Generation wuchs mit dem WM-Titel von 2014 und den folgenden eher enttäuschenden Turnieren auf. Als Kinder des 21. Jahrhunderts kennen wir den Zweiten Weltkrieg nur aus dem Geschichtsunterricht oder durch Erzählungen unserer Großeltern. Die Nachkriegszeit, in der nationale Symbole noch verpönter waren als heute, haben wir nicht erlebt. Wie denken also junge Menschen in Deutschland heute über ihre Nationalfarben?

Und die Jugend? Laut Umfragen sehen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren das öffentliche Zeigen der deutschen Flagge kritischer als der Durchschnitt. Mich überrascht das wenig. Es entspricht meinem alltäglichen Eindruck auf dem Uni-Campus, in den sozialen Medien oder auf Partys, wo viele mit Patriotismus wenig bis gar nichts anzufangen wissen. Warum ist das so? Fiona (21), eine deutsche Studentin, meint: „Besonders in Deutschland befürchten die Menschen, dass dies zu Nationalismus und Vorherrschaftsideologien führen könnte, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Daher würde ich mich nicht als Patriotin bezeichnen, aber ich hege sicher eine gewisse Liebe zu meiner Heimatstadt und dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin.“ Nationalistische Gefühle bereiten ihr jedoch Unbehagen: „Ich kann es nicht leiden, wenn mir Leute sagen, dass ihr Land das beste, schönste und mächtigste ist und die beste Kultur hat. Das ist so weit von meinem eigenen Hintergrund entfernt. Es macht mich auch misstrauisch, weil ich das Gefühl habe, dass es unmöglich ist, alles Gute irgendwo zu vereinen.“

Was junge Linke und Konservative denken…

Gerade in den Monaten vor einem großen Fußballturnier überschlagen sich Zeitungen und Nachrichtenportale mit Meinungsbeiträgen zu Patriotismus. Doch sind emotional geführte Online-Debatten nicht immer ein guter Indikator dafür, was der Durchschnittsbürger denkt. Oft sind es politische (Jugend)Organisationen, die ihre Ansichten in der Öffentlichkeit besonders laut vertreten und zu extremeren Ansichten neigen. So ist in den Augen von Linksjugend „solid“ die deutsche Fahne ein Symbol für „WM-Nationalismus“, der Migranten ausschließe. Die Jugendorganisation, die der Linkspartei nahesteht, rief bereits während des Turniers 2018 zur Zerstörung öffentlich sichtbarer Flaggen auf. In ähnlicher Weise positioniert sich die Grüne Jugend, die in der Vergangenheit Fußballfans aufforderte, ihre Fahnen abzuhängen. Für viele im linken Spektrum scheint Patriotismus der kleine, auf den ersten Blick unschuldig anmutende Bruder des Nationalismus zu sein. Ein Wolf im Schafspelz. 

Anders sieht es im konservativen Lager aus. Dort setzt sich die Schüler-Union seit Längerem dafür ein, die Flagge ganzjährig in den Schulen zu hissen. „Sie steht für die zentralen Werte unseres Grundgesetzes, sie steht für die Einigung Europas in Frieden und Freiheit”, äußerte sich der Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, Adrian Klant, schon 2019. Man solle die Vereinnahmung der deutschen Flagge nicht den Rechtsextremisten überlassen.

Vorhang auf für neue Debatten 

Pünktlich zur Europameisterschaft flammen Debatten in Deutschland wieder auf. Mal darf es lieber weniger Patriotismus sein. Zum Beispiel löste die Berliner Polizeiführung Diskussionen aus, als sie den Beamten untersagte, beim Eskort der Mannschaftsbusse zur EM die deutsche Flagge an Dienstfahrzeugen anzubringen. Und mal soll es gerne mehr Patriotismus sein. Das zeigte die Debatte rund um den Sponsor der deutschen Nationalmannschaft. Die Tatsache, dass statt der deutschen Marke Adidas demnächst Nike das deutsche Trikot zieren wird, sorgte für viel Kritik. Selbst hochrangige Politiker wie Vizekanzler Robert Habeck, der bisher als Patriotismus-Skeptiker in Erscheinung getreten war, forderten plötzlich mehr „Standort-Patriotismus“. 

Kein Patriotismus ist auch keine Lösung

Niemand weiß genau, wie sich das Verhältnis des Landes zum Patriotismus entwickeln wird. Obwohl Fiona sich selbst nicht als patriotisch bezeichnet, ist sie der Meinung, dass ein völliger Verzicht auf Patriotismus unrealistisch ist: „Meiner Beobachtung nach empfindet jeder Mensch von Zeit zu Zeit Patriotismus. Dieses Gefühl ist an sich ist weder gut noch schlecht. Es liegt an den Menschen, was sie aus diesen Momenten machen. Sicherlich besteht die Möglichkeit, dass dieses Gefühl missbraucht wird und die Gefahr von Überlegenheitsgefühlen damit verbunden ist.”

Die Bedeutung patriotischer Symbole ist also nicht in Stein gemeißelt. Sie verändert sich mit der Zeit. Doch Nationalstolz überlässt es den Bürgern, worauf sie stolz sind. Die Frage ist: Wie kann man die Bedeutung eines Symbols gestalten, das man nicht nutzt?

Die Zukunft des deutschen Patriotismus

Wie auch immer die Zukunft des Patriotismus in Deutschland aussehen mag, die Jugend von heute wird zweifellos ihr wichtigster Gestalter sein, so wie es die Generationen vor ihr waren. Es sind die Eltern, Arbeitnehmer und Chefs von morgen, die bestimmen, wie üblich es sein wird, bei Fußballturnieren in Nationalfarben zu dekorieren oder vor dem Fernseher die Hymne zu singen. Vor allem aber werden sie prägen, wofür die deutsche Flagge auch außerhalb des Fußballs steht. Vielleicht spielt bald ein weiteres deutsches Sommermärchen dabei eine Rolle!? 


Übersetzt aus dem Englischenhttps://historycampus.org/2024/football-flags-feeling-german