Putins Potemkinsches Militär

Ein Kommentar von Daniel Gros

Im Internet kursieren Videos und Bilder von verlassenen russischen Panzern, die von ukrainischen Bauern mit Traktoren abgeschleppt werden. Dabei ist nicht immer klar, von wem sie aufgenommen wurden und ob sie authentisch sind - ein Symbol für russische Schwäche und ukrainischen Widerstand wurden sie dennoch.
Foto: Screenshot Twitter

Krieg, so argumentierte vor rund 200 Jahren der deutsche Militärstratege Carl von Clausewitz, stelle einen Wettstreit des Willens dar. Was das angeht, scheinen die Ukrainer, die ihre Heimat leidenschaftlich verteidigen, einen klaren Vorteil gegenüber den russischen Streitkräften zu haben. Doch um einen Krieg zu gewinnen, muss der Wille durch militärische Mittel unterstützt werden – das erfordert industrielle und wirtschaftliche Stärke. Hier könnte Russland einen Vorteil gegenüber der Ukraine haben. Doch ist Russland viel schwächer als der Westen, den es letztlich herauszufordern sucht.

Ein BIP wie Italien

Russland ist, was seine wirtschaftliche und industrielle Stärke angeht, bestenfalls eine Mittelmacht. Seine Industrieproduktion ist nur halb so hoch wie die Deutschlands, und sein BIP etwa genauso hoch wie Italiens. Das gemeinsame BIP der Europäischen Union ist fast zehn Mal größer als das Russlands. Und das ist, bevor die neue Runde westlicher Strafsanktionen ihren Tribut zu fordern beginnt.

Angesichts seiner großen Wirtschaft kann Europa es sich leisten, glaubwürdige Verteidigungskapazitäten aufzubauen. Um ihre NATO-Verpflichtung zur Aufwendung von jährlich zwei Prozent vom BIP zur Verteidigung zu erfüllen, müssen die europäischen Länder ihre Ausgaben im Schnitt um bloße 0,5 Prozent vom BIP erhöhen. Bedenkt man, dass sich die staatlichen Gesamtausgaben in diesen Ländern gegenwärtig auf durchschnittlich 45 Prozent vom BIP belaufen, scheint dies ohne Weiteres machbar.

Selbst für das bisher säumige Deutschland stellen die kürzlich angekündigten kurzfristigen Verteidigungsinvestitionen von 100 Milliarden Euro nur etwa 2,5 Prozent vom BIP dar. Russland seinerseits wendet vermutlich mehr als vier Prozent seines BIP für Verteidigung auf – eine erhebliche Belastung für ein Land, das zur Vernetzung seines enormen Gebiets eine kostspielige Infrastruktur aufrechterhalten muss.
Militärausgaben fast wie Deutschland

Während die Verteidigungsausgaben einen beträchtlichen Anteil der russischen Wirtschaft ausmachen, sind sie in der Summe selbst eher bescheiden – insbeson-dere nach den Standards einer „Großmacht“. Russland gab 2020 geschätzte 60 Milliarden Dollar für Verteidigung aus, verglichen mit den deutschen Ausgaben von 50 Milliarden Dollar.

Auf diesem Ausgabenniveau und angesichts der den russischen Staatsapparat durchziehenden Korruption wäre es eine wahrhaft erstaunliche Leistung, eine große moderne Streitmacht aufzubauen, die imstande ist, einen langanhaltenden Kon-flikt durchzuhalten, und zugleich eine übergroße Nu-klearstreitmacht aufrechtzuerhalten und die eigenen Großmachtambitionen weltweit voranzutreiben.

Es ist eine Leistung, die Russland nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Tatsächlich scheint es, als hätte Russland die ganze Zeit über ein „Potemkinsches“ Militär gehabt. Der Begriff leitet sich von dem Gouverneur Neurusslands, Grigori Alexandrowitsch Potemkin, ab, von dem es heißt, er habe Scheinsiedlungen bauen lassen, um Katherina die Große 1787 während ihrer Reise zur Inspektion der neu erworbenen Krim und der diese umgebenden Gebiete zu beeindrucken. Nun ist die Geschichte der „Potemkinschen Dörfer“ weitgehend ein Mythos, und die Historiker sind sich uneins, was die Zarin auf ihrer Reise tatsächlich zu sehen bekam.

Es scheint, dass Potemkin in Wahrheit beträchtliche Investitionen in die Infrastruktur auf der Krim und in ihrem Umland vornahm, aber dass ihm die Mittel fehlten, um das neu eroberte Gebiet an das übrige Russland anzubinden.

Ausbleibende Angriffe

Sechzig Jahre später schränk-ten die hieraus rührenden Schwächen im Bereich der Infrastruktur – zusammen mit dem Versäumnis, logistische Kapazitäten aufzubauen – die Fähigkeit Russlands, sich im Krimkrieg gegen englische und andere europäische Truppen zu verteidigen, stark ein.

 Berichte, wonach die Truppen in der Ukraine heute mit Nahrungs- und Treibstoffmangel konfrontiert sind, legen nahe, dass Russland daraus nichts gelernt hat. Die Logistik ist beim Militär immer der Bereich, der für Korruption am anfälligsten ist.

Um die Folgen des Ressourcenmangels des russischen Militärs zu verstehen, müssen wir uns nicht bloß ansehen, was bislang in der Ukraine passiert ist, sondern auch – und vielleicht wichtiger – was dort nicht passiert ist. Zunächst einmal hat es Russland nicht geschafft, die ukrainischen Kommunikations- und sonstigen elektronischen Steuerungssysteme zu zerstören.

Allgemeine Annahme war lange, dass Russland jede militärische Offensive durch „verheerende“ Cyber-Angriffe unterstützen würde. Doch dazu kam es nicht, vermutlich, weil die Ukraine über die Unterstützung der westlichen Nachrichtendienste verfügt, deren Cyber-Kriegsfähigkeiten auf einem enorm viel größeren Reservoir an Talenten und dem Know-how der US-Technologiegiganten beruhen.

Tatsächlich erkannte – und blockierte – Microsoft nur wenige Stunden vor Beginn der Invasion Malware, die Daten der ukrainischen Ministerien und Finanzinstitute hätte löschen sollen. Das Unternehmen gab den Code dann an andere europäische Länder weiter, um seine weitere Nutzung zu verhindern.
In ähnlicher Weise hat SpaceX Starlink-Internetterminals in die Ukraine geschickt, um die Störungen des Internets in dem Land auszugleichen. Das Satelliten-Internetsystem in der Ukraine betriebsbereit zu machen, wird Zeit erfordern, weil eine große Anzahl von Basisstationen eingerichtet werden müssen. Aber das ist eine Frage von Wochen, nicht Jahren.

Auffällig still war es auch um die Luftwaffe, die den ukrainischen Luftraum bisher nicht unter ihre Kontrolle gebracht hat, obwohl Russland beinahe zehn Mal so viele Flugzeuge hat wie die Ukraine. Zwar hat Russland am ersten Tag der Invasion mit einem Sperrfeuer von Raketen versucht, die ukrainischen Radaranlagen und Flughäfen außer Gefecht zu setzen. Doch auf diese erste Salve folgte keine zweite, weil Russlands Vorräte an Präzisionslenkwaffen und anderen kostspieligen Kampfmitteln begrenzt sind.

Darüber hinaus scheinen die russischen Piloten kaum Erfahrung zu haben – vermutlich, weil ein effektives Pilotentraining (wie Präzisionslenkwaffen) teuer ist. Und schließlich sind wichtige Trägersysteme nicht auf dem neuesten Stand.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Putin hätte diesen Krieg mit einer großen Menge an Präzisionslenkwaffen oder mit großen Devisenreserven anfangen können. Er entschied sich für Letzteres. Nun, da die Hälfte dieser Reserven durch beispiellose westliche Sanktionen gesperrt wurde, bedauert er diese Entscheidung vermutlich. Angesichts Russ-lands begrenzter Fähigkeit, seine Waffenproduktion – und insbesondere die Produktion hoch-entwickelter Waffensysteme, die Vorleistungen erfordern, die er sich nicht länger im Ausland beschaffen kann – rasch auszuweiten, scheinen Putins Aussichten, seinen Krieg in der Ukraine durchzuhalten, begrenzt.
In einem Kon-flikt zwischen zwei gleichermaßen motivierten Gegnern ist eine breite wirtschaftliche und industrielle Stärke entscheidend. Putin hat einen Krieg mit schwacher Materialausstattung begonnen. Er hat Europa motiviert, in seine eigene Verteidigung zu investieren. Er hat Russland auf eine Bahn demoralisierenden wirtschaftlichen Niedergangs gebracht. Und vor allem hat er die Ukrainerinnen und Ukrainer motiviert, leidenschaftlich für ihre Freiheit zu kämpfen.

Wenn die Ukrainer es schaffen, dem ersten Ansturm standzuhalten, könnte ihre Entschlossenheit, zusammen mit potenziell unbegrenzter westlicher Unterstützung, das Blatt in Putins Krieg wenden – und für Putins Regime.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Daniel Gros ist Vorstandsmitglied und Distinguished Fellow des Centre for European Policy Studies.