Einer von fünf Bürgern in Rumänien ist arm, weil sein Gehalt trotz geregelter Arbeit zum Überleben einfach nicht reicht. Eine Million Angestellte erhalten den staatlichen Mindestlohn von 975 Lei – das sind etwa 220 Euro – brutto! Wie soll man davon die Familie ernähren, Wasser, Strom oder Telefon bezahlen, Schulsachen für die Kinder kaufen, Fahrkarten oder Medikamente, die Heizungskosten bestreiten und all das, was sonst noch so anfällt in einem bescheidenen Eigenheim – alternativ dazu die Miete? 80 Prozent der Rentner müssen mit weniger als 800 Lei monatlich auskommen und was Kinderarmut betrifft, liegt Rumänien auf Platz eins in der EU. Selbst im Beamtensystem sieht es trostlos aus: „Wir sind bei der Situation angekommen, dass von den 1,2 Millionen Angestellten im öffentlichen Dienst ungefähr eine Million unter dem Durchschnittsgehalt liegt – schlimmer, unter 1200 Lei!“ warnt Premierminister Victor Ponta wortwörtlich anlässlich der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) am 29. Januar veranstalteten Diskussion zur „Nationalen Strategie für soziale Inklusion und Reduzierung der Armut 2014-2020“ der Regierung, die zur Verabschiedung ansteht und nun bis heute öffentlich für diese Debatte zur Verfügung steht (Link: www.mmuncii.ro/j33/index.php/ro/transparenta/proiecte-in-dezbatere/3654-2014-12-29-proiecthg-incluziunesociala.).
Es ist dies nur der erste Teil einer Diskussion, für die sich der Premierminister über drei Stunden Zeit nahm – auch um den Sorgen und Nöten der mit sozialen Problemen befassten NGOs zuzuhören. Er habe nicht oft Gelegenheit, sich zu diesem Thema zu äußern, motivierte er mit Verweis auf Themen, die derzeit die Medien überschwemmen: Udrea, Bica... „Wenn ich über Soziales spreche, publiziert mich niemand“, klagt Ponta. Neben ihm stand auch Arbeitsministerin Rovana Plumb der Presse Rede und Antwort. Ansonsten fanden die Diskussionen auf Basis der Chatham House-Regeln statt, die keine Zuordnung von Aussagen zu Personen erlauben. Am Ende der Veranstaltung schlug der Premierminister selbst eine Folgediskussion zu diesem Thema in etwa einem Monat vor.
Victoria Stoiciu (FES) weist in ihrer Einführungsrede auch auf die Brisanz der Situation jenseits materieller Aspekte hin: Immer öfter werden sozial Schwache Opfer von Diskrimination – allein 2013 gab es 414 Petitionen wegen Rechtsverletzungen. „Sozialer Rassismus“ nennt sich das neue Phänomen – und es greift mehr und mehr um sich. Armut wird dämonisiert. „Wer arm ist, ist selbst schuld“, heißt es. Allzu leichtfertig drückt man jenen aus den untersten sozialen Schichten Stempel wie Faulheit, „mangelnde Initiative, fehlende Ordnung und Disziplin“ auf. Hinzu kommt, dass unser System die ohnehin schon Begüterten belohnt: Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer. Obwohl die Wirtschaftszahlen derzeit nicht schlecht aussehen, wie auch Ponta einräumt, klafft die soziale Schere weiter und weiter auseinander. Nur Wirtschaftswachstum genügt nicht, um Armut zu mindern, erklärt daher der Premier. Wenn die Wirtschaft wächst, gewinnen nur die Starken. „Es herrscht das Gesetz des Dschungels, wo der Wettbewerbsfähige überlebt und der Schwache stirbt.“ Nur durch politischen Willen und staatliche Maßnahmen kann es gezähmt werden, so Ponta.
Von wegen Almosen!
Ist Armutsbekämpfung Luxus für einen Staat, der ohnehin wenig zu verteilen hat? Eher eine Notwendigkeit, erkennt auch Arbeitsministerin Rovana Plumb. Denn Armut birgt Gefahren, die sich auf die gesamte Gesellschaft auswirken: Nichtfunktionalität und Korruption im öffentlichen System, im schlimmsten Fall politischer Extremismus. Griechenland macht vor, was auch uns passieren kann, mahnt Ponta: „Ich erinnere mich, wie Premierminister Samaras in ‚The Economist‘ und ‚Financial Times‘ und von der EU-Kommission gelobt wurde. Außerordentlich gut seien die Zahlen!“ Und relativiert: „Doch es scheint, dass die, die in Griechenland lebten, nicht die gleiche Meinung wie ‚The Economist‘ und ‚Financial Times‘ hatten.“ Vor allem der Mangel an Perspektive und das Fehlen von Erklärungen für das, was geschah, aber auch die Tatsache, dass der Alptraum immer ungleich verteilt wird, führten zu einem Wahlergebnis, von dem er nicht glaubt, dass es nur für Griechenland typisch sei. „Da werden wir auch in Spanien noch Überraschungen erleben...“. So verwundert es nicht, dass die Mehrheit im Parlament für eine nachhaltige, langfristige Armutsbekämpfungsstrategie einsteht, verrät Ponta. Sozialabgaben für Benachteiligte, Kinder oder Renter sind keine Almosen („poman²“), wie so oft kritisiert, insistiert er weiter. Sie sind – unter anderem – Garantie für den Fortbestand der Demokratie. Mehr als Sozialabgaben spielt in der staatlichen Strategie jedoch der Integrationsgedanke in den Arbeitsmarkt eine große Rolle: das aktive Leben bis ins Alter zu erhalten, angemessene Beschäftigung für Behinderte und anderweitig Benachteiligte. Hilfe zur Selbsthilfe, wenn man so will.
Teufelskreis Armut und Korruption
„Eine der Ursachen für Armut ist mit Sicherheit die Korruption“, fährt Ponta fort und regt sogleich dazu an, auch einmal den Umkehrfall zu betrachten: Armut, die Korruption auslöst! Bestes Beispiel – der öffentliche Dienst. Während einige Institutionen 200 bis 300 Prozent über dem mittleren Bruttolohn der Verwaltungsbehörden liegen – als Beispiele werden genannt: die Nationale Energiebehörde, die Finanzinspektion, DIICOT, das Justizministerium oder die Antikorruptionsbehörde, der oberste Gerichtshof, der Rechnungshof, das Ministerium für Öffentlichkeit, der Verfassungsgerichtshof, das Departement zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und das Ministerium für Europäische Fonds – liegen andere deutlich darunter: das Kulturministerium mit 44 Prozent! Ebenso die Umweltaufsicht: „Wie soll man damit das Problem der illegalen Abholzungen in den Griff bekommen?“, fragt sich Ponta. Dann das Wirtschaftsministerium mit 49 Prozent, das Arbeitsministerium mit 69 Prozent...
Hinzu kommt, dass eine Verwaltung nicht funktionieren kann, wenn man unabhängig vom Einsatz den gleichen Lohn erhält, kritisiert der Premier. Häufige Folge ist passiver Widerstand: „Wer nicht arbeitet, macht keine Fehler. Wer nichts unterschreibt, den holt auch nicht die DNA, den schmeißt der Chef nicht raus“, unkt Ponta. Eine konkret geplante Maßnahme kündigt er bereits an: die Anhebung des Mindestgehalts in diesem und im nächsten Jahr. „2011 betrug es 675 Lei. In diesem Jahr, ab dem ersten Juli, werden es 1050 Lei sein und im nächsten werden wir es mit Sicherheit auf 1200 Lei erhöhen“, verspricht er und räumt ein: „Auch ein Bruttogehalt von 1050 Lei ist ja keinesfalls übertrieben“.
Den Topf zum Verteilen füllen
Eine stets diskutierte Facette bei der Frage, wie man den sozial Schwächeren auf die Beine helfen kann, ist die Besteuerung. Auch hier flammt das Thema auf: Wie soll man den Angestellten klarmachen, dass fast 50 Prozent ihres ohnehin geringen Lohns an den Staat gehen? Und von dem, was bleibt, zahlt man Grundsteuer, Haussteuer, Mehrwertsteuer... „Wir sollen die Steuern senken und die Ausgaben für Gesundheit und Ausbildung erhöhen, doch niemand sagt uns, woher?“ rückt Ponta zurecht und ruft zu mehr Ernsthaftigkeit in diesem Diskurs auf. Rumänien ist ein Niedrigsteuerland verglichen etwa mit Deutschland – klar, dass da die Sozialleistungen, die Schulen und Spitäler nicht auf dem gleichen Stand sein können. Allerdings sollte man auch in der rumänischen Gesellschaft über eine unterschiedliche Besteuerung sehr großer Einkommen und Besitztümer nachdenken, schlägt er vor, „wie dies in den westlichen Gesellschaften geschieht, mit denen wir uns sonst so gerne vergleichen.“
Ein wesentlicher Teil des Problems ist freilich auch die geringe Anzahl der Einzahler in das staatliche Sozialsystem. Obwohl die Zahl der Beitragspflichtigen in den letzten drei Jahren gestiegen sei, kommen nur etwa 5.200.000 Angestellte auf ca. fünf Millionen Pensionäre, erläutert Rovana Plumb. Weitere ca. drei Millionen arbeitsfähige Rumänen befinden sich derzeit im Ausland, so Ponta. Würden sie – theoretisch – monatlich auch nur 10 Euro in unser soziales System einzahlen, ihr Beitrag wäre deutlich in der Staatskasse spürbar, illustriert der Premierminister und will das Argument, die Auslandsrumänen schickten ihr Geld ohnehin vorwiegend nach Hause, in diesem Zusammenhang nicht gelten lassen: Denn sie investieren es natürlich privat und nicht in Spitäler, Schulen oder Autobahnen. „Die Zunahme der Beitragszahler ist die einzige Lösung für eine nachhaltige, langfristige Lösung“, insistiert Ponta.
Zauberwort Nachhaltigkeit
Die Gesprächsbeiträge der NGO-Vertreter verdeutlichen: Armutsbekämpfung kann viele Facetten haben, es geht nicht immer nur um auszuzahlende Sozialleistungen. Manch-mal genügt es, die Startbedingungen zu verbessern, um jemandem den Schubs in ein unabhängiges Leben zu geben: Wasser für eine Romasiedlung, damit die Kinder gewaschen zur Schule gehen und nicht von vornherein durch die abzusehende Diskriminierung entmutigt werden. Früherziehung für die Kleinsten, die aus sozialen Verhältnissen kommen, in denen sie nicht einmal lernen, wie man einen Buntstift hält. Busse, die auch abgelegene Dörfer anfahren und damit Anschluss an die Arbeitswelt bieten. Oder Aufklärung für Jugendliche, dass Verhütungsmittel kostenlos sind und wie man sie überhaupt anwendet... Auch Ponta räumt ein (zur Roma-Problematik befragt): Es ist nicht immer nur der Mangel an Geld, der Hilfe verhindert. „Geld ist vorhanden. Es ist in der Vergangenheit nur nicht immer sinnvoll eingesetzt worden.“ Essenziell ist bei allen Projekten, wie so oft, die Frage der Nachhaltigkeit.
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In der Verfassung verbrieft
Artikel 47 aus der rumänischen Verfassung zum Thema „Lebensstandard“ besagt:
(1) Der Staat verpflichtet sich, Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum sozialen Schutz zu ergreifen, sodass den Bürgern ein menschenwürdiger Lebensstandard gesichert wird.
(2) Die Bürger haben das Recht auf Rente, Urlaub und bezahlten Mutterschaftsurlaub, medizinische Versorgung in staatlichen Gesundheitseinrichtungen, Arbeitslosenhilfe und andere Formen von öffentlichen oder privaten Sozialleistungen, wie vom Gesetz vorgesehen. Die Bürger haben auch das Recht auf soziale Assistenz, gemäß Gesetz.