„Und wir wurden verschleppt, nur weil wir Deutsche waren“

Wiederaufarbeitung mit neuem Fotobuch von Marc Schroeder

Zeitzeugin der Russland-Deportation Ana Oprea aus Freidorf, dem westlichsten Temeswarer Stadtbezirk. Die Landschafts-Aufnahmen und Porträts von Marc Schroeder widerstehen allem Erklären. Man muss sich blätternd in sie hineinknien und vertiefen.
Foto: Marc Schroeder

Weihnachten feierten sie noch zuhause und zu Ostern waren sie schon in Arbeitslagern der Sowjetunion einquartiert. Oder ist die um zwei Buchstaben kürzere Vokabel „interniert“ zutreffender? Wo es um Geschichte und Geschichtsschreibung von Menschen ging und geht, ist nichts einfach. Nachdem Rumänien am 23. August 1944 Hitler-Deutschland den Rücken kehrte, war Russland erst recht in aller Munde, inklusive unter Rumäniens Minderheiten. Aber eine Deportation? Für die bodenständigen Siebenbürger Sachsen, Banater Berglanddeutschen, Bukowinadeutschen, Zipser, Landler, Banater Schwaben, Sathmarer Schwaben und nicht an letzter Stelle auch die deutschen Gemeinschaften in Altrumänien damals schier unvorstellbar.

In der Heimat jedoch ging es schnell, um bald in der Fremde eine gefühlte Ewigkeit zu dauern. Von Rumäniens ethnisch deutschen Zeitzeugen, die keine sechs Monate nach dem Umschwenken ihres Königreiches auf die Seite der Alliierten das kriegsbedingt karge Russland als Verschleppte kennenlernen und wiederaufbauen helfen sollten, überlebten etwa 85 Prozent die bis zu fünf harten Jahre der Deportation in sowjetische Zwangsarbeitslager. Wie viele von ihnen bereits auf der wochenlangen Zugfahrt in die UdSSR oder später in den Einsatzorten im Donezbecken und Kaukasus starben, ist nicht ganz klar. Dafür besteht kein Zweifel, dass exakt 69.332 Deutsche aus Rumänien nach Russland deportiert wurden. Nicht alle kehrten wieder nach Rumänien zurück, und nur ganz wenige dieser hochbetagten Männer und Frauen sind noch am Leben.

Ex-Bankkaufmann Marc Schroeder aus Luxemburg hat vierzig von ihnen 2012 und 2013 besucht und fotografisch porträtiert – das seit Herbst 2021 beim niederländischen Verlag „The Eriskay Connection“ bestellbare Buch „Order 7161“ gibt ihnen ihre Stimme zurück. Wer es heute nachholen wollte, müsste scheitern: fast achtzig Jahre nach 1945 wären kaum mehr zig Zeitzeugen anzutreffen, die noch dazu persönlich von all dem in der russischen Fremde Erlebten erzählen könnten. Für ein neues Buch reichte das nie und nimmer. So, wie Marc Schroeder diese Zeitzeugenstatements publiziert hat, waren sie niemals zuvor veröffentlicht worden und dürften sie auch in Zukunft nicht authentischer festgehalten werden können. „Order 7161“ ist und bleibt ein Unikat auf dem Büchermarkt Europas und der Welt.

Die darin enthaltenen Rückblenden stehen alle-samt in der ersten Person. Nüchterner und schonungsloser geht es nicht.

„Na, da waren wir im selben Land“

Die Schweigelast, der die 1945 nach Russland Deportierten sich fast lebenslänglich fügen mussten, war eine doppelte. Bis 1990 durften sie öffentlich kein kritisches Sterbenswörtchen über die sow-jetischen Zwangsarbeitslager verlieren. Rumänien, das sie als Königreich verlassen hatten, erreichten sie auf der Rückreise als ihr kommunistisches Heimatland, womit sie so nicht gerechnet hatten. Ein russischer und laut Gedächtnis eines Zeitzeugen ganz klar anti-kommunistisch gesinnter Vorarbeiter jedoch, der einem deutschen Deportierten aus Rumänien von den über zwei Millionen Menschen erzählte, die 1932 in der Ukraine verhungert waren, klärte ihn noch vor dessen Rückreise in seine Geburtsheimat auf: „Ihr seid bald im gleichen Land und wir können uns ruhig besuchen.“ Die Hymne „Es lebe der König…“, von einigen Rückkehrern der Deportation im Waggon an der Nordgrenze Rumäniens flugs angestimmt, war eines der ersten und letzten unerkannten Fettnäpfchen daheim, in das die aus der Verschleppung Entlassenen traten. Der Alltag im kommunistischen Rumänien brachte ihnen bei, sich zusätzlich zu ihrer Russland-Erfahrung auch über alles Gute und Schlechte der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges auszuschweigen. Von Vergangenheit konnte kaum gesprochen, geschweige denn geschwärmt werden.

„Order 7161“ von Marc Schroeder reißt sie nicht gewaltsam ein, die politisch schon lange nicht mehr unbeschädigt stehende Mauer des Schweigens, bricht aber eine kulturell eingebürgerte Gewohnheit, sich beim Reden über die heikle Vergangenheit während, nach und vor 1945 nur die Rosinen herauszupicken. Im Buch steht die „Deportation“ zentral an Position 4 von sieben Kapiteln. Kapitel 3 verwendet den Titel „Order 7161 – die Aushebung“ und Kapitel 5 titelt kulminierend „Das Lager“. Der Nährboden dieser Aushebung war „Die Welt im Krieg“ an Stelle 2, und ein Indiz vom Schluss des Lager-Daseins das russische „Skoro domoj (´Bald nach Hause´)“ an Position 6.

„Heimat“ setzt Marc Schroeder an den Anfang und auch das Ende – dort aber dann mit Fragezeichen und dem Zitat eines Zeitzeugen, der auch die Enteignung 1945 und die Deportation in die B˛r˛gan-Tiefebene 1951 anführt: „Sie hatten Angst vor der Zukunft, denn die Vergangenheit war schrecklich.“ Verständlich also, dass Marc Schroeder Rumäniens deutsche Zeitzeugen der Deportation nach Russland schwarzweiß porträtiert hat. Bunt sind nur die Fotos, für die sie sich jeweils am Tag nach den alles noch einmal aufrollenden Gesprächen entschieden.

Übelnehmen und Bereuen

Wo es im Rückschau-Halten hart kommt, eignen sich Töne von Schwarz bis Weiß perfekt zum Erinnern. Die Tannen in verschneiter Landschaft, das im Winter aufgenommene Querbild eines siebenbürgisch-sächsischen Dorfes, aus dessen Schornsteinen kein Rauch aufsteigt, und das ebenso verschneite Dächermeer von Kronstadt/Bra{ov mit der Schwarzen Kirche vor der Kulisse der Zinne auf den Seiten 1 bis 5 des Fotobuches sind nicht ohne Grund in Schwarzweiß gedruckt. Schwarzweiß ist auch der Schnappschuss auf Seite 6, der verschwommen eine Traube Teenager am Schulhof zwischen Schwarzer Kirche und Honterus-Gymnasium wiedergibt. Die Zeitzeugin, die Marc Schroeder auf das vergebliche Vergessen-Wollen und Nicht-Erinnern-Wollen hinweist, glaubt es beurteilen zu können: „Die jungen Leute, die Jugend von heute, die können das nicht verstehen.“

In jedem Fall lagen die von ihm besuchten Zeitzeugen richtig, am spät vorgerückten Abend ihres Lebens Tacheles zu sprechen. Gut, dass sie es anonym tun, sonst sähen sich gar manche Träger von Amt und Würden der deutschen Minderheiten-Politik Rumäniens genötigt, rückwirkend Stellung zu einem empfindlich störenden Winkelzug zu nehmen: „Der größte Feind jedoch, die ganz großen Nazis, diese ganz großen Bosse, die wurden nicht deportiert, die sind alle abgehauen“, wie ein 1945 nach Russland Verschleppter abrechnet. Ob es derselbe ist, der an anderer Stelle im Buch davon spricht, dass „diejenigen, die das eigentlich angezettelt hatten, sich (…) nach Deutschland in Sicherheit gebracht haben“? Wie verläuft die Grenze zwischen Feigheit und Verrat? Ab wann sollte all dieses verjähren können?

Verjährung mag erlaubt sein, Vergessen aber sollte nicht gefordert werden dürfen. Ein von Marc Schroeder aufgenommenes Foto zeigt das menschenleere Innere einer siebenbürgisch-sächsischen Stube mit der bekannten Verszeile „Siebenbürgen süße Heimat“ auf dem bestickten Wandbehang, links gepaart mit einem Gedicht. „Schreib in den Sand die dich betrüben / Vergiss und schlaf darüber ein“, lauten die ersten zwei der zwölf Zeilen in gotischer Druckschrift. Wäre es nur so einfach!

„Order 7161“ von Marc Schroeder nimmt dem, was die Zeitzeugen der Russland-Deportation in den Zwangsarbeitslagern der UdSSR erlebt haben, nichts von seiner Härte. Körperlich schwere Arbeit bei bis zu 40 Grad Kälte, extrem dürftige Nahrung und überhaupt sehr schlechte Lebensbedingungen sind nachträglich nicht kleinzureden, klar. Dort aber, wo Schuldlast zumindest teil-weise hätte verhindert werden können, ermutigt dieses Fotobuch einen Schritt zu spätem Eingestehen. „Damals, das war nicht richtig, das habe ich damals nicht verstanden“, erinnert sich eine Deportations-Zeitzeugin an die Deutsche Jugend im sächsischen Siebenbürgen, wo viele junge Männer sich zum Eintreten in die Waffen-SS aufstellen ließen. „Na, was soll das, was haben damals die Rumänen und die Ungarn über uns gedacht?“

„Stalin hat extra die Deutschen verlangt“

Eine delikate Frage, auf die ein anderer Zeitzeuge der Deportation bereuend entgegnet, dass „wir in 2000 Jahren noch wissen werden, was unser Adolf gemacht hat, wenn wir heute noch wissen, was Nero gemacht hat. Na, ‚unser‘, er war ja nicht unbedingt ‚unser‘ Adolf“. Damals, mitten im Eifer des Kriegsgefechts, hätte es für die deutsche Minderheit Rumäniens nicht funktionieren können, sich in der Öffentlichkeit kollektiv von Hitler lossagen zu wollen. „Wir wollen von Schuld nicht reden“, sagte Thomas Mann noch Mitte Januar 1945 in einer von der BBC ausgestrahlten Ansprache. „Es ist von anderen Völkern zu viel verlangt, dass sie zwischen Nazitum und dem deutschen Volk säuberlich unterscheiden.“ Recht bald folgen sollte „die mechanische und unvermeidliche Reaktion auf Untaten, die ein Volk als Ganzes übt, bei der es leider nicht nach individueller Gerechtigkeit, nicht nach Schuld und Unschuld des Einzelnen geht.“

Darüber jedoch hatten die aus der Deportation Heimgekehrten bis 1990 nicht sprechen dürfen. Rumänien brachte der Kommunismus ab sofort jahrzehntelang um die Möglichkeit, Nuancen ins Feld zu führen. Auch in Russland musste man Glück haben, Menschen zu begegnen, die nicht in diese Falle traten. „Bei uns waren so kleine russische Kinder, die haben dann geschrien: ‚Fritz, Fritz, Fritz!‘ und mit Steinen auf uns geworfen. Bestimmt ist ihnen gesagt worden: ‚Das sind die Deutschen, die sind schlecht, die haben unsere Eltern, Mütter oder Väter kaputt gemacht.‘“ Dieses Bild währte lang. 1980 als Fachmann in Rumänien musste ein 1945 Deportierter die Tirade eines Kollegen über sich ergehen lassen. „‚Das hat man mit euch gut gemacht, dass man euch verschleppt hat, das hat man mit euch gut gemacht.‘ Das war mir nicht recht, aber ich musste mein Maul halten.“

Nicht überall aber herrschte Hass. In der Ukraine zum Beispiel „waren die Russen sehr freundlich zu uns und haben uns nicht schlecht behandelt. Die wussten, dass wir keine Kriegsgefangenen waren, sondern Verschleppte.“ Auch hat Fotograf und Buchautor Marc Schroeder überaus gründlich recherchiert, dass „es durchaus Solidarität seitens rumänischer Bürger gab: Einige nahmen ihre von der Mobilisierung bedrohten deutschen Nachbarn bei sich auf; rumänische Polizeibeamte schauten auch mal weg, wenn sich den Festgenommenen eine Fluchtgelegenheit bot.“ Hilfe eben, die man nie vergisst.

In manchen Zeitzeugenzitaten, die Marc Schroeder sich und seinen Lesern für den Schluss des letzten Fotobuch-Kapitels („Heimat?“) aufhebt, steckt ein Potenzial, die Politik der deutschen Minderheit Rumäniens etwas aufzurühren. „Ich habe genug Russland in allen Knochen, und alles erinnert mich an Russland. Aber ich vertrage kein Jammern, ich kann nicht jammern.“ Ja, „Order 7161“ endet mit  Resignation, doch es enthält auch die Kehrseite. „Ich habe sehr viel gelernt und bin dem lieben Gott ganz besonders dankbar für diese Verschleppung.“ Außerdem „habe ich niemanden beschuldigt und beschuldige auch jetzt niemanden. Die ganze Welt war im Krieg. Jeder machte, was er wollte. Russland war doch von den Deutschen zerstört worden und hat eine stringente Arbeiterschaft gebraucht und hat sie genommen, von wo es konnte. Ich habe die Russen verstanden.“ Kann man sie auch heute verstehen? Putin sicher nicht.