Anfang der 1990er Jahre hatte ich das im Aufbau-Verlag erschienene Buch „Auch wir sind Europa. Zur jüngsten Geschichte und aktuellen Entwicklung des Baltikums“ erhalten. Es umfasst eine Sammlung von Presseberichten und Dokumenten zum Schlittern von Estland, Lettland und Litauen unter sowjetische Herrschaft infolge des geheimen Zusatzprotokolls des Molotow-Ribbentrop-Paktes (auch als Stalin-Hitler-Pakt bekannt) vom 23. August 1939, den Widerstandsbemühungen in der Zeit als Sowjetrepubliken sowie der während der Perestroika stattgefundenen Bewegungen für Unabhängigkeit, welche die drei Staaten 1991 erlangten. Beeindruckt hat mich das Zustandekommen der aus rund einer Million Teilnehmern bestehenden Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius am 23. August 1989 zum 50. Jahrestag des Pakts – in der Zeit bevor es Handy und Social Media gab! Diese Staaten wollte ich aber auch wegen ihrer wunderschönen Orte schon immer mal besuchen. Nach einem siebentägigen Aufenthalt (mit einer Reisegruppe) möchte ich nochmals dahin reisen!
Ein bis eineinhalb Tage in den drei Hauptstädten reichen nicht aus, um das Sehenswerteste zu erkunden. Oder um zu ergründen, wie es die drei Staaten geschafft haben, das halbe Jahrhundert Sowjetdiktatur in so kurzer Zeit abzuschütteln und zu funktionierenden Marktwirtschaften zu werden – sonst wären sie nicht bereits 2004 in die Europäische Union aufgenommen worden und würden der Eurozone nicht angehören. Ist es das kulturelle Erbe (im Sinn der Zivilisationswerte) und die einstige Zugehörigkeit zur Hanse sowie dem preußisch-polnischen Raum, die – nebst gehörigem politischem Willen – dazu geführt haben, dass das Bruttoinlandsprodukt dieser Staaten weit über jenem Rumäniens liegt? An den Straßenrändern sieht man weder Müll noch riesengroße Reklametafeln, die Ortschaften sind sauber und geschmackvoll gestaltet, ohne auf den Gehsteigen parkende Autos, bettelnde Kinder und Kitschbuden an Touristenorten.
Um es vorwegzunehmen: die Altstädte von Tallinn, Riga und Vilnius gehören dem UNESCO-Weltkulturerbe an, sind (bei flüchtiger Touristenbetrachtung) musterhaft restauriert und die Sanierungen weiterhin im Gang. Alle drei haben eine mehrere Jahrhunderte zurückreichende Geschichte, in allen dreien sind eine Vielzahl an Kirchen unterschiedlicher Konfessionen erhalten und zugänglich, sehenswürdige Gebäude herausgeputzt, auf öffentlichen Plätzen stehen kleine, schicke, luftige Terrassenlokale ohne dröhnende Musik, in allen dreien gibt es viele Blumenbeete, Parkanlagen und Bäume. In allen drei Hauptstädten gibt es ein Museum der Besatzung, des Widerstands sowie der Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Freiheit, wo die Zeit der Nazi- und der Sowjetbesatzung und -zeit und sodann die Bemühungen um die Erlangung des Status als eigenständige Staaten dargestellt und erklärt werden. In Riga befindet sich das Museum im einstigen KGB-Sitz, in Tallinn sind die ehemaligen Haftzellen des KGB zusätzlich zur Erkundung eingerichtet. Im Besuchsprogramm der Tourismusagentur standen diese Besichtigungen nicht, weshalb es mir bloß in Tallinn gelungen ist, die KGB-Zellen und das einer privaten Initiative zu verdankende Museum anzuschauen. Mit neuesten technischen Mitteln ausgestattet und vielen erzieherischen Angeboten für Kinder, definiert es sich als „Heim für persönliche Narrative über Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, denn „Geschichten, wie diese, helfen uns besser, Gerechtigkeit und Freiheit zu schätzen“. Vor dem Eingang ins Museum stehen Koffer aus Stein, auf ihnen sind Namen von Bezirken in der Sowjetunion eingraviert, wohin Menschen aus Estland deportiert worden waren. In diesen Staaten fanden mehrere Deportationswellen statt. In allen drei baltischen Hauptstädten sind Ordnungshüter nur in der Nähe der russischen Botschaften oder von Mahnmahlen für die Befreiung zu sehen (es gibt in den Gebäuden des Parlaments, der Regierung oder Präsidentschaft Sicherheitsschleusen beim Eingang, von außen sehen sie unbewacht aus), wo überall Manifeste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine ausgehängt sind. Viele öffentliche aber auch private Gebäude sind mit der ukrainischen Fahne beflaggt. Aber es gibt auch eine Bevölkerungsschicht, die der Sow-jetzeit nachtrauert.
Architektonische Vielfalt
Faszinierend an der Architektur der drei baltischen Hauptstädte ist ihre Unterschiedlichkeit. In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, blieb die mittelalterliche Burg erhalten, mit Türmen, gepflasterten Gässchen und Mauern – in die zum Beispiel Gebäude der Regierung integriert sind. Einen schönen Blick auf die Altstadt, aber auch weit auf den Finnischen Meerbusen hinaus erhält, wer es nicht scheut, die 232 engen Steinstufen auf die Aussichtsplattform des 124 Meter hohen Turms der Olai(Olav)kirche zu steigen. Das alte Rathaus – die erste dokumentarische Erwähnung erfolgte vor 700 Jahren – soll das älteste und einzig erhalten gebliebene gotische Rathaus in Europa sein, die Kunstwerke in den Sälen sowie das Ratsgestühl sind Zeugen des Wohlstands der einstigen Hansestadt Reval (wie Tallinn bis 1918 hieß). Aus der Zeit der Spätgotik erhaltene Häuser der hanseatischen Kaufleute oder das Haus der Großen Gilde (sie bestand von 1325 bis 1920) sind in der Langstraße (Pikk tänav) aber auch in deren Seitenstraßen zu bewundern.
Über den Badeort Parnu ging die Reise nach Riga weiter, der Hauptstadt Lettlands, ebenfalls eine ehemals bedeutende Hansestadt. Auch dort gibt es spätgotische Häuser der Kaufleute und Zunftgebäude, enge gepflasterte Gässchen und Festungsmauern und -türme, am Ende des 19. Jahrhunderts verwandelte sich die alte Hansestadt jedoch dank des Architekten und Stadtplaners Michail Eisenstein (1867-1921) sowie seinen Nachfolgern und dem von ihnen geprägten Jugendstil zum „Paris des Ostens“. Ein Teil der rund 800 Jugendstil-Bauten u.a. im sogenannten Botschaften-Viertel sind wunderschön restauriert. Viele der darin befindlichen Wohnungen stehen leer. Es können sich nur wenige Personen die Miet- und Unterhaltskosten leisten, klärt uns die Reiseleiterin auf. Ein Muss im Besichtigungsprogramm ist das im Zweiten Weltkrieg zerstörte und vor wenigen Jahren erst wieder aufgebaute „Schwarzhäupterhaus“ am Rathausplatz – ehemals Haus der Gilde –, der ins 13. Jahrhundert zurückgehende Dom und die ebenso alte Petrikirche, beides Backsteinbauten.
Die im Norden Europas beheimatete Backsteingotik trafen wir – nun bereits in Litauen – desgleichen in Kaunas an, einer der diesjährigen Kulturhauptstädte Europas. Darauf deutete eine Bühne am Marktplatz hin, sonst aber wenig, allerdings waren wir auch um die Mittagszeit da. Etwas übersaniert fand ich die 1361 erstmals erwähnte Burg von Kaunas auf der Landzunge beim Zusammenfluss der Memel und Neris, einstmals ein strategischer Punkt in den Kreuzzügen des Deutschen Ritterordens gegen Litauen. Auch in diesem Städtchen stehen in gepflasterten Gässchen eine Menge alte Häuser und Kirchen, die es zu bewundern lohnt.
Einen Besuch sollte man unbedingt Trakai (27 km von Vilnius entfernt) abstatten, der einstigen Hauptstadt Litauens mit seiner Wasserburg, die niemals eingenommen werden konnte. Die erste Anlage stammt aus dem 14. Jahrhundert und war auch im Jahrhundert danach die Residenz der litauischen Großfürsten. Deren Reich erstreckte sich zeitweilig von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und auf die Krim, von wo sich einer der Fürsten Tataren und Karaimen – oder Karäer – als Leibwächter holte, deren kulturelle Traditionen heute wiederentdeckt werden. Die Karäer sind eine ethnisch-religiöse Gruppe, die sich im 8. Jahrhundert vom Judentum abgespalten hat, vermutlich aus dem Irak oder Konstantinopel auf die Krim kam, eine Turksprache und Elemente der türkischen Kultur annahm. In Trakai, dem karäischen kulturellen Zentrum Osteuropas, sollen 60 Mitglieder dieser Gemeinschaft leben, die Kenesa, ihre Synagoge, war leider zu. Die über eine lange Holzbrücke zu erreichende Burg mit Innenhöfen, Zugbrücke, Türmen und Verteidigungsmauern sowie sechsstöckigem Bergfried gilt als Wiege der litauischen Nation, ihre Bedeutung für die Geschichte des Landes, aber auch die während der Wiederherstellungsarbeiten gemachten Ausgrabungsfunde sind in dem in den Hauptgebäuden befindlichen Museum zu erkunden.
Kirchen und Kreuze
Auf dem Weg nach Vilnius hielten wir am „Berg der Kreuze“ (nahe dem Ort Siauliai) an. Es ist der bekannteste litauische Wallfahrtsort, von Legenden umwoben, immer wieder zerstört oder abgerissen worden (mehrmals in der Sowjetzeit), doch jedes Mal größer neuentstanden. Für die Litauer ist der Berg – eigentlich ein Hügel – der Ort des Gedenkens an Tode in Aufständen und GULAG, ein Symbol des Widerstands, aber auch der persönlichen Fürbitten oder Danksagungen. Die Zahl der Kreuze zu ermitteln ist unmöglich, es sollen um die 100.000 sein. Kleine Kreuze und Gebetsketten sowie Kränze hängen an den größeren Kreuzen, das leise klappernde Geräusch im Wind erinnert an Glockengeläute. Ein Kreuz stammt von Papst Johannes Paul II., der im September 1993 hier eine Messe hielt. Seither wird der Berg als heiliger Ort für die Katholiken aus aller Welt betrachtet.
Der Spaziergang durch Litauens Hauptstadt führte vorbei an und in Kirchen. Vilnius wird auch „Stadt der Kirchen“ genannt, allein 50 Gotteshäuser verschiedener Konfessionen befinden sich in der Altstadt. Die Besichtigungen begonnen hatten wir im Vorort Antakalnis, wo eine wunderschöne Peter-und-Pauls-Kirche steht. Da außen eingerüstet, war die Überraschung angesichts der üppigen, in Weiß gehaltenen barocken Stuckaturen und Plastiken im Innern (von Pietro Perti und Giovanni Maria Galli ausgeführt) umso größer. In ihrer Schönheit vergleichbar ist sie mit der im klassizistischen Stil erbauten St. Stanislaus und St. Ladislaus-Kathedrale mit danebenstehendem Glockenturm, der Pfarrkirche des römisch-katholischen Erzbistums Vilnius, wo Krönungen litauischer Fürsten stattfanden und sich ihre Grabstätten befinden. Für eine orthodoxe Kirche ungewöhnlich ist die mit Barock- und Rokoko-Elementen versehene Innengestaltung und Farbgebung in Grün und Blau der Heilig-Geist-Kirche, der wichtigsten orthodoxen Kirche Litauens, der Klosterkirche eines Mönchs- und eines Nonnenklosters. Keine Zeit blieb leider für die Besichtigung des einstigen jüdischen Viertels, des größten seines Zeichens in Osteuropa. Vorbeispaziert sind wir am bescheidenen Präsidentenpalast, der neben den Gebäuden der Universität gebaut wurde, die zu den ältesten Europas gehört, mit einer Bibliothek (1579) des damaligen Jesuitenkollegs.
Da unsere Tour von der Reiseagentur als „Bernstein-Rundreise“ angeboten worden war – und die Teilnehmerinnen nach Bernsteinschmuck auch stets Ausschau hielten – durfte der Besuch des kleinen Bernstein-Museums in Vilnius nicht fehlen – das durchaus sehenswert ist, um zu erfahren, wie vielfältig dieses fossile Harz sein kann.