Leben Sie in Westrumänien? In Sathmar/Satu Mare, Großwardein/Oradea, Arad oder Temeswar/Timişoara? Wenn ja, dann geben Sie es zu: Sie waren sicherlich einige Male in Ungarn, bis spät in die 2000er Jahre auf Einkaufstouren, in Debrecen, Szeged, Makó, Gyula oder Békéscsaba. In den jüngsten Jahren dann einfach ins Freibad, denn jede ungarische Kleinstadt zwischen Nyíregyháza und Szeged hat ausgiebig und klug in Frei- und Thermalbäder investiert, die heute Tagestouristen aus den Nachbarländern anziehen, aus der Ukraine, aus Rumänien und aus Serbien gleichermaßen, im Sommer wie im Winter.
Aber Ostungarn bietet mehr als nur Freibäder, mehr als nur deftiges Essen oder Einkaufszentren in den Großstädten. Und auch Bürger aus den Nachbarländern entdecken zunehmend das reichhaltige kulturhistorische Angebot einer Region, die aufgrund der gemeinsamen Geschichte viele Gemeinsamkeiten mit dem Westen Rumäniens aufzuweisen hat. Wer beispielsweise Szeged, dieses mitteleuropäische Kleinjuwel mit südländischem Flair, schon kennt, der schaue sich auch im Umland von Szeged um. Es gibt zum Beispiel wunderschöne Jugendstil-Architektur in Hódmezövásárhely, eine mittelalterliche Burg und schicke Innenstadtgassen in Gyula, aber auch ein beeindruckendes Freilichtmuseum in einem unscheinbaren Dorf namens Ópusztaszer, im Komitat Csongrád, etwa 25 Kilometer nördlich von Szeged, unweit der Autobahn M5.
Ein Besuch der Nationalen Historischen Gedenkstätte von Ópusztaszer („Ópusztaszeri Nemzeti Törtenéti Emlékpark“) bietet nicht nur eine Einführung in die Geschichte der Magyaren auf mitteleuropäischem Gefilde, sondern auch, dass, egal was so mancher hierzulande tut, die westlichen Nachbarn zumindest einen Schritt voraus sind. In Sachen Tourismus jedenfalls. Auch wenn sie ein wenig die Nase rümpfen, wenn sie in Ópusztaszer Gäste aus Rumänien empfangen, die keine Ungarn sind. In der Tat: Die Nationale Historische Gedenkstätte wird hauptsächlich von Ungarn besucht, auch wenn auf dem großen Parkplatz mittlerweile Busse und Autos mit rumänischen Kennzeichen parken: Covasna, Braşov, Cluj, Mureş – die Leute sprechen alle Ungarisch. Aber die Kartenverkäuferin antwortet auf Englisch, Informationen gibt es in allen Weltsprachen, neuerdings auch auf Russisch. Die Freundschaft zwischen Budapest und Moskau ist neu und, blickt man auf die letzten 200 Jahre der ungarischen Geschichte, recht erstaunlich.
In Ópusztaszer geht es allerdings nicht darum, sondern zunächst um die Angst und Schrecken verbreitenden, auf ihren kleinen Pferden reitenden, blutrünstigen Barbaren, die für eine Jahrhunderthälfte Mittel- und West-europa verwüsteten, Dörfer in Brand steckten, Männer töteten, Frauen und Kinder versklavten und 955 bis nach Augsburg vordrangen, um schließlich am Lechfeld von Otto dem Großen besiegt zu werden. Noch lassen sie sich vom mythischen Vogel „Turul“ führen, noch beten sie ihre heidnischen Götter an, eine weitere Jahrhunderthälfte vergeht, bis einer ihrer Stammesfürsten, István, sich taufen lässt, eine bayerische Prinzessin heiratet und sein Volk zum Christentum bekehrt. „Gesta Hungarorum“, die Taten der Ungarn, wie der unbekannt gebliebene Notar König Bélas III. seine spätere Chronik betitelte.
Auf dem in Ópusztaszer ausgestellten Panoramabild des Árpád Feszty werden die magyarischen Stämme in ihrer vollen heidnischen Pracht dargestellt, dem Großfürsten Árpád stehen die anderen Stammesfürsten bei, mit Frauen, Kindern, Ochsenwagen, mit Schamanen, und mit den zerstörten, brennenden Dörfern der in Knechtschaft gefallenen Slawen im Hintergrund, die die Magyaren 896 auf ihrem Vormarsch in die Pannonische Tiefebene gefunden haben sollen. 1892 bis 1894 leitete der Maler Feszty eine 20-köpfige Mannschaft von Künstlern, die auf einer 1800 Quadratmeter großen Leinwand ein Panoramabild malten, die Landnahme der Ungarn, die „Honfoglalás“. Gemalt aus Anlass der Millenniumsfeier von 1896 und zunächst in einer eigens dafür gebauten Halle im Budapester Stadtwäldchen aufgestellt, brachte das Panoramabild den Maler Feszty in große finanzielle Schwierigkeiten, da er einen Teil der Kosten selbst finanziert hatte. 1944 wurde während der Schlacht um Budapest die Ausstellungshalle des Feszty-Bildes zerstört, das Gemälde schwer beschädigt. Ab 1991 wurde es von polnischen Fachleuten aufwändig restauriert und 1995 in der Nähe eines kleinen Dorfes, Ópusztaszer, in der Südlichen Tiefebene, Dél-Alföld, ausgestellt. Bereits ab den 1970er Jahren entstand dort die Nationale Historische Gedenkstätte, ein 55 Hektar großes Freilichtmuseum, das das Leben der Ungarn in der Pannonischen Tiefebene, im Zwischenstromland Donau–Theiß, darstellt. Zweifelsohne: Das Freilichtmuseum ist interessanter als das Gemälde und die historisierende Großmannssucht, die es repräsentiert.
Es gibt mehrere Originalhäuser der ungarischen Puszta, eine Dorfstraße wurde nachgebaut: mit Bauernhäusern, dem Rathaus, den Geschäften, der Windmühle, mit einem Forsthaus, einem Kirchlein und einem Teich, einer Bahnstation, wie es sie unzählige Male in der ehemaligen k. u. k. Monarchie gegeben hat, ein alter Zug mit Lokomotive und zwei Wagen hält vor der kleinen Station. Es gibt landwirtschaftliche Geräte aus der Zeit der Jahrhundertwende, es gibt eine Dorfschule, einen Gendarmerie-Posten und die kleine Kanzlei der Finanzverwaltung, sodann eine hochinteressante kleine Ausstellung zum Straßenbau und -verkehr in Ungarn, von den Römern bis zu den Autobahnen der Gegenwart. Eine Telefonzelle der Zwischenkriegszeit, eine Klasse mit Wänden voll von alten Karten: das alte Ungarn, Großungarn, dessen Geografie den Schülern auch nach 1920 beigebracht wurde. Und die Verlautbarungen der Verwaltung, an deren Spitze der habsburgische König stand und unter ihm der Reichstag in Budapest, die Magnaten und der Klerus, der Obergespan in den Komitaten und der Bürgermeister, der „polgármester“. Nach 1920 blickte kein Habsburger mehr auf ungarische Schulkinder in den ärmlichen Klassenzimmern, an den Wänden blieben aber die Landkarten hängen und das Bild Admiral Horthys, des Reichsverwesers, kam hinzu, den kein Volksgericht mehr als Kriegsverbrecher verurteilen konnte.
Es ist diese Geschichtsbesessenheit, dieser Hang zum Pompösen, diese teils hohle, teils lächerliche, revisionistische Symbolistik, die überall präsent wird, auch in Ópusztaszer: In nachgebauten Jurten wird das Karpatenbecken dargestellt und es gibt Erde zu bewundern, aus allen von Ungarn bewohnten Ländern stammend, sogar aus Australien. Es gibt auch einen überdimensionalen „Turul“-Vogel und zwei Kumanen, einen Mann und eine Frau, groteske Gestalten, die nach Osten blicken, dort wo die „Terra Cumanorum“ gewesen sein soll.
Aber der Landschaftspark von Ópusztaszer mit seinem Freilichtmuseum ist ein kostbares Stück der Welt von gestern: Die großen Langhäuser mit gepflasterten Höfen und Gehsteigen, mit alten Möbeln, mit der Küche und den Sodaflaschen, mit der alten Oetker-Werbung und dem klapprigen Fahrrad, mit den getrockneten Paprika überall und den sauberen Stallungen im Hinterhof, sie alle erinnern ein bisschen auch an das alte Banat, an dieses längst versunkene Mitteleuropa, dieses fragile Gebilde, welches zwei Weltkriege und mehrere Diktaturen nicht überstehen konnte. Am Rande eines Puszta-Dorfes, von einem stattlichen Wald umgeben, dort, wo ganze Schulklassen aus dem gesamten Karpatenbecken hingekarrt werden, um das restaurierte Bild der ungarischen Landnahme zu sehen und die offizielle Sicht auf die Geschichte vermittelt zu bekommen, versteckt sich also ein Stückchen Mitteleuropa. Und wer noch in den 1980er Jahren im Banat einen schwäbischen Haushalt gesehen hat und so etwas noch sehen möchte, der fahre nach Ópusztaszer, vergesse den heidnischen Großfürsten und den Reichsverweser in seiner kitschigen Uniform und suche die Sodaflaschen. Es gibt sie, im Krämerladen, beim Bäcker nebenan.