Schmachten wie auf der Zielgeraden

Mindestens einmal im Leben die Maramuresch versuchen

Fenster im ehemaligen politischen Gefängnis

Es gibt noch freie Grabstellen in Săpânța... | Fotos: Klaus Philippi

Pfingstsonntag in der griechisch-kath. Kirche von Breb

Unbewohnter Bauernhof in Breb

Im Nonnenkloster Bârsana

Eine lange Autofahrt wie eine echte Geduldsprobe hat meist erlebt, wer nicht eben zu den Einheimischen zählt und sich in Rumäniens nördlichster Karpaten-Senke am ersten Abend die Decke über den Kopf zieht. Ganz gleich, ob man unterwegs der Einöde der Großen Ungarischen Tiefebene enteilen musste, gesamt Transsylvanien zu durchqueren hatte oder die Ostkarpaten auf vielbefahrener Straße gemeistert sein wollten: möchte sich trotz all der zurückliegenden Gebirgspässe und Haarnadel-Kehren kaum Bettschwere einstellen, verschaffen ein, zwei oder drei Gläschen „horincă” sicher Abhilfe. Der nur hier so heißende Obstbrand gehört zur Maramuresch wie der Wein zu den übrigen historischen Regionen Rumäniens. Aber auch manches andere, was markant wenig bis gar nichts mit dem Zaubern und Genießen von Hochprozentigem zu tun hat, trägt in der Maramuresch ureigene Züge. Gelebt wird dort nach Usancen, denen an jedem weiteren Ort ähnlicher Art im Land die einmalige Kulisse wegbleiben würde. 

Und wo es um eine Grenzregion geht, ist sie auch von Spuren des Sterbens gezeichnet, denen man auf Schritt und Tritt begegnet. Es gehört doch zum Kennenlernen der Maramuresch, den „Cimitirul Vesel” in Săpânța anzusteuern, und wer ohnehin in die Kleinstadt Sighetu Marmației kommt, sollte zumindest ein paar gute Stunden ohne Zeitdruck für den Besuch der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und für die Widerstandsbewegung einplanen; das „Memorial” lässt sich nicht einfach abhaken. Viel eher bleibt es im Gedächtnis haften wie beispielsweise die Erinnerung an das erste richtig ernste Wort von Lehrern oder Eltern ohne Drohungen und krude Wutausbrüche in früher Kindheit. Maßstäbe für immer, die sitzen, und zwar ohne dass strafend Schmerzhaftes sie erzwungen haben muss.

Zudem gibt es zahlreiche Grabinschriften in Săpânța, die ganz und gar nicht auf „fröhliches” Betrauern rückschließen lassen, und bei den Reimen besonders, die kleinen Kindern gelten, mag man sich das Leiden ihrer Eltern kaum vorstellen müssen. Einem gewissen Parcours durch den „Cimitirul Vesel” nach Karte oder Plan folgen weder Gäste noch Dorfbewohner, weswegen bloß die Option bleibt, sich auf gut Glück von Grab zu Grab zu schlängeln und der Fügung zu vertrauen, dass früher oder später endlich wieder eine Inschrift auftaucht, deren Verszeilen einen das Schmunzeln nicht vergessen lassen. Angenehm breit die mittige Friedhofs-Allee und äußerst eng der Abstand zwischen den einzelnen Grabstätten, die Kopf an Kopf  liegen und es mit sich bringen, dass etliche Tafeln beidseitig bemalt und beschrieben sind.

Jede Menge Text zu lesen ist auch in den über 80 Einzelräumen des „Memorial”. Die Buchstaben dafür sind maschinengeschrieben, haben beileibe nichts Poetisches, und es muss schon mit dem Teufel zugehen, wenn jemand sich zum Eigenlob versteigt, das Gefängnis-Museum genauso nüchtern wie den tadellos gepflasterten Vorplatz der Gedenkstätte hin zum Lösen von Tickets verlassen zu haben. 70 Jahre zurück liegt die Schande, als das kommunistische Regime sich feixend an seiner Glanztat erfreute, unter strengster Geheimhaltung 200 anti-diktatorische Volksmänner in Sighetu Marmației inhaftiert und ein Viertel von ihnen ums Leben gebracht zu haben. Ohne Waffen.

Es bringt herzlich wenig, sich der Reihe nach bis zum bitteren Ende jede einzelne Informationstafel vorknöpfen zu wollen, als ob es die erste wäre, die man zu Gesicht bekommt. Manch kluger Kopf, dem es seinerzeit als Insasse im traurig-berühmten Gefängnis-Städtchen trotz Engelsgeduld nicht gegeben war, weiter als bis in den Hof der Anstalt zu kommen, ist fatal gescheitert – geschehen kann das auch Besuchern binnen kürzester Zeit. Zwar tritt das „Memorial” völlig anders als der „Cimitirul Vesel” in Săpânța auf, hat jedoch mit ihm etwas Unverkennbares gemeinsam: kein Buchstabe, Wort und Satz ist überflüssig. Weshalb man sich wie überall auf der Welt in einem prominenten Museum kein wenig für sein aleatorisches Hingucken schämen muss, geschweige denn der Gefahr ausgesetzt sein könnte, Wichtiges zu versäumen. Bildungsbürgerliche Zucht, die einen von klein auf bei Strafe zum Gründlich-Sein formen wollte? Gelitten hat einst in Sighetu Marmației ausgerechnet am härtesten, wer glaubte, sie unter keinen Umständen auf ihre Anfälligkeiten hinterfragen zu dürfen.

Gehen Sie in aller Ruhe stichprobenartig von einer Gefängnis-Zelle zur anderen, das macht sich im „Memorial” todsicher bezahlt! Und kaufen Sie sich nachher im Shop des Hauses den dünnen und doch sehr detaillierten Museumsführer, wenn das informative Übermaß Sie nicht gleich wieder aus Ihrem Grübeln über den schmerzlichen Stoff entlassen möchte. „...Niemals haben wir unseren Patriotismus überzogen demonstriert. Die patriotische Ergebenheit haben wir in unseren Herzen verwahrt und nicht so wie die Hurra-Patrioten der Zeit von heute zur Schau getragen”, zitiert eine Schautafel „Senior” Corneliu Coposu. Kritik am Protochronismus, an kommunistischer Selbstbeweihräucherung – und für Augen, die es zu durchschauen gewohnt sind, ein Entzaubern gar nicht so ungefährlich betörender  Schimpftöne von Frust-Gesellschaftskreisen im Rumänien, das mit dem Fall des Eisernen Vorhangs doch längst abgeschlossen haben sollte. Von Jahr zu Jahr dankbarer sein für das Präsent der Freiheit. Denkste...

Davon, dass vieles mal anders war und irgendwann vielleicht gern auch wieder ganz wie früher nachgebessert werden könnte, scheint die Maramuresch kaum beeindruckt. Im sehr fein herausgeputzten Dorf Breb findet sich nur eine einzige Unterkunft, die das Wohnen und Ausruhen in wirklich urigen Bauernhäusern einer verflogenen Zeit angemessen möglich macht, und dem idyllischen Marktflecken Sighetu Marmației, der Elie Wiesel bis zum Alter von 15 Jahren eine unbeschwerte Heimat war, ist vor Ort allenfalls bruchstückhaft auf die Spur zu kommen.

Mächtig viel zu wünschen übrig lässt – wen wundert´s? – auch hier das öffentliche Linienbus-Verkehrsnetz, denn Gleise gibt es in der Maramuresch bloß von und nach Borșa, die dampfende Wassertal-Bahn/Mocănița de pe Valea Vaserului bei Oberwischau/Vișeu de Sus ausgenommen. Zwar kann, wer seine Pension im schmucken Breb gebucht hat und ohne den eigenen PKW Sighetu Marmației erreichen möchte, auch mit einem Bus hin, muss dafür jedoch zur Unzeit aus den Federn und kaum, dass zu Mittag in der Stadt der letzte Bissen hinuntergestürzt wurde, auch schon wieder auf das Uhrticken zur Rückfahrt achten; Abends und übers Wochenende fährt überhaupt gar nichts auf der Strecke. Arbeit daran wäre der Maramuresch nützlich.

Schlägt man einen rumänischen Verkehrsatlas an der für die Nord-West-Grenze zur Ukraine angegebenen Seite auf, ist mitunter nicht schlechtes Staunen angezeigt: das „Geographical Centre of Europe” liegt nur einen Steinwurf entfernt Richtung Rahău im Nachbarland, erstreckt sich der Alte Kontinent doch vom Atlantik bis zum Ural – wobei das „Memorial” in Sighetu Marmației null Zweifel an seinen okzidentalen Tönen aufkommen lässt. Vorausgesetzt, dass man sich für Klassik begeistern kann, foppen einen ab Eintritt in das Parterre des Gefängnis-Hauptteils ständig abwechselnd die Anfänge beider Rhapsodien von George Enescu, und aus welchem Lautsprecher sie sich aufdrängen, entdeckt man erst viel später hoch oben in Zelle 80 von Etage zwei; in den Studios von „Radio Freies Europa” und „Voice of America” wusste man nur zu gut, bei was für Ohrwürmern Hörer aus Rumänien verstummten.

Positiv diskriminierende Sonderbehandlung der Causa ethnisch deutscher Häftlinge in den rüden 50er-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich dem „Memorial” nicht nachsagen, dazu war Negatives einfach viel zu stark in der gesellschaftlichen Breite zu befürchten. Keine christliche Konfessionsgemeinschaft, die nicht Tribut in Gestalt von Pastoren, Pfarrern, Priestern oder Bischöfen an die politischen Gefängnisse abtreten musste, und überdeutlich als Leidtragende herausgestellt zu werden verdient dabei nur die griechisch-katholische Kirche als einzige, der gar das Mindestmaß Toleranz verwehrt blieb. In Sighetu Marmației steht die Welt nicht Kopf, sondern tiefer verankert. Tiefer vielleicht noch als im behütet sächsischen Siebenbürgen. Zu Beginn des Besucher-Parcours im Ex-Gefängnis huscht ein dezenter Schatten von Zittern und Beben über die Stimme von Ana Blandiana aus dem Decken-Lautsprecher, und aus gleicher Quelle durchfährt Johann Sebastian Bach´s Choral „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ” einen wortlos geradewegs so, wie man es protestantisch kaum jemals erwartet hätte. Urplötzlich. Das kann die Maramuresch.