Langsam setzt sich die kleine, schon in die Jahre gekommene Diesellok in Bewegung. Vor der gesprungenen Fensterscheibe des hölzernen Personenwaggons ziehen die Gebäude am Stadtrand von Oberwischau/Vișeu de Sus vorbei: ein Sägewerk, kleine Wohnhäuser mit ihren gepflegten Gärten. Die Sonne versteckt sich noch unter dem Horizont und im Gras hängt der Raureif der vergangenen kühlen Sommernacht. Neben uns hat es sich ein gutes Dutzend Waldarbeiter gemütlich gemacht, ein paar spielen Karten, manche unterhalten sich, andere dösen, vom monotonen Rattern der Räder auf den Schienen schläfrig geworden.
Da einige Fensterscheiben gänzlich fehlen, bläst uns der kühle Morgenwind um die Ohren und vertreibt etwas meine Müdigkeit. Einer der Arbeiter feuert den rostigen Kanonenofen im Waggon an, und schon bald lodert es orangefarben hinter der löchrigen Ofentür. Er platziert in Alufolie gewickelte Fleischwurst auf die warme Ofenplatte und als sie heiß genug ist, richtet er auf einer der freien Holzbänke, ausgebreitet auf ein paar alten Dienstplänen, ein kleines, rustikales Frühstück her: ein paar Scheiben Brot, eine aufgeschnittene Zwiebel, eine Konservendose mit Fisch, etwas Speck und die köstlich duftende Fleischwurst. Gerade wollen wir ihm „Poftă bună!“ wünschen, als er uns lächelnd ansieht und heranwinkt. Das Frühstück hat er für uns hergerichtet, und auch wenn wir ein paarmal beteuern, ihm nicht sein Essen für den langen Arbeitstag streitig machen zu wollen, so duldet er keine Widerrede. Sogar in der Waldarbeiterbahn im tiefen Wassertal in den Maramurescher Bergen wird uns die herzliche rumänische Gastfreundschaft zuteil.
Ein solches Frühstück wird dem Besucher dieses abgelegenen, kaum besiedelten Tals in Nordrumänien, nahe der Grenze zur Ukraine, nur mit viel Glück zuteil, und auch nur, wenn er sich sehr früh und noch vor Sonnenaufgang mit den Holzarbeitern auf den Weg macht. Schon seit den 1930er Jahren fährt die schmalspurige Waldbahn, immer entlang des Flüsschens Vaser/Wasser, von Oberwischau aus in die nahen Berge und bringt das dort geschlagene Holz ins Tal. Ihre geringe Spurweite von nur 760 Millimetern ermöglicht es, auch enge Kurvenradien zu fahren, und ihr bis heute an die 50 Kilometer umfassendes Streckennetz ist so angelegt, dass es Richtung Tal ein stetiges Gefälle aufweist. Morgens zieht die Lok die leeren Holzwaggons mit etwa zehn Kilometern pro Stunde in die Berge hinauf, und nachmittags bringt die Schwerkraft sie voll beladen mit Baumstämmen wieder ins Tal hinunter; die Lok wird jetzt nur noch zum Bremsen eingesetzt. Früher fuhren hier nur dampfbetriebene Lokomotiven. Die wenigen, die heute noch in Betrieb sind und die Wassertalbahn damit weltweit einzigartig machen, werden verwendet, um Besucher einen Teil der Strecke in die Berge zu befördern.
Zwar hat unsere Fahrt an diesem frühen Morgen entlang des Vaser-Flüsschens etwas weniger Eisenbahnromantik und dicke Dampfschwaden zu bieten, dafür erleben wir den authentischen Alltag der Holzarbeiter: eine Fahrt in wilde und ursprüngliche Bergwälder, Reparaturarbeiten an der Lok, die Verladebahnhöfe, die an vergangene Zeiten erinnern. Und natürlich das ganz besondere Frühstück, das uns einer der Bremser spendiert. Auf der Talfahrt winkt er uns von draußen zu, wo er hinter einem der Holzwaggons seiner gefährlichen Arbeit nachgeht. Denn an manchen Stellen reicht die Lok nicht aus, um die Masse des Holzes abzubremsen, und hinter den Wagen müssen Männer von Hand nachhelfen. Wieder in Oberwischau angekommen, folgen unsere Blicke den dicken Stämmen auf Lastwagen oder in den Bauch des Sägewerks.
Wer weiß, vielleicht landen einige der Baumstämme aus dem Wassertal im etwa 80 Kilometer entfernten Săpânța. Werden dort zersägt, bearbeitet, bemalt von einem der beiden Männer, die die Tradition von Stan Ioan Pătraș bis heute fortführen, und den europaweit einzigartigen „Fröhlichen Friedhof“ mit weiteren leuchtend blauen Grabkreuze versorgen. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts begann Pătraș, ein Holzschnitzer aus dem kleinen Ort nahe der ukrainischen Grenze, diese besonderen Kreuze herzustellen. Über 700 schuf er im Lauf der Zeit. Es sind nicht nur die bunten Farben, die sie so besonders und einen Rundgang über den Friedhof so spannend machen; jeder Verstorbene wird auch mit ein, zwei Bildern aus seinem Leben sowie einem kleinen Gedicht bedacht. Hier wurde einer bei der Feldarbeit vom Blitz getroffen, da hat ein Arbeiter gerne mal zu tief in die Weinflasche geschaut, und wieder eine andere Dahingeschiedene war wohl sehr schön, hat es aber mit der Treue nicht so genau genommen. Mal witzig, mal spöttisch und mal melancholisch kommen die Verse daher, und so mancher kriegt ordentlich sein Fett weg. Dem Tod begegnen diese besonderen Kunstwerke mit einer gehörigen Portion Humor und Lebensfreude.
In Săpânța gibt es aber nicht nur den „Fröhlichen Friedhof“ zu entdecken. Die holzreiche Maramuresch kann auf eine jahrhundertealte Schnitzertradition zurückblicken. Davon zeugen bis heute die außergewöhnlichen Tore, die die Einfahrt in manches Gehöft versperren und die wir bei einem Spaziergang durch die kleinen Dorfgassen immer wieder entdecken. Dicke hölzerne Taue, die symbolisch für den festen Zusammenhalt der Familie stehen, umschließen Sonnenräder, rankende Pflanzen und manchmal sogar bildliche Szenen aus dem Alltag der Bauern. Und dann stehen wir ungläubig vor der Kirche „Sfântul Arhanghel Mihail“ des Klosters Peri vor den Toren von Săpânța. Eingebettet in bunt blühende Blumen bestaunen wir Holzbaukunst in Vollendung. Unser Blick folgt den Schindeln des tiefgezogenen Daches und wandert nach oben, immer weiter, der spitz zulaufende Turm scheint sich fast endlos in den Sommerhimmel zu erstrecken. Mit seinen 75 Metern macht er die Stabkirche des Nonnenklosters zum höchsten Eichenholzbauwerk Europas.
Sehr viel mehr Jahre auf dem Buckel hat die Holzkirche in Glod nahe des Iza-Tals, deren Schindeln im Laufe der Zeit nachgedunkelt und heute fast schwarz sind, und die ein wenig wie eine kleine Ausgabe der Kirche des Peri-Klosters wirkt. Sie steht inmitten eines alten Friedhofs mit verwitterten und schiefen Grabsteinen, ist aber bis heute ein lebendiger Bestandteil des dörflichen Lebens. Auf der Suche nach dem Küster treffen wir dessen Bruder. Enthusiastisch erklärt er sich bereit, uns durch sein Dorf zu führen. Seinen Bruder finden wir zwar nicht, dafür aber ein älteres Ehepaar, das gerade emsig damit beschäftigt ist, eine Maische aus Äpfeln und Pflaumen in den großen Kessel ihrer selbstgebauten Destillieranlage einzufüllen. Irgendwie archaisch wirken die beiden und die ganze Szenerie, wie aus der Zeit gefallen. Wir müssen unbedingt ihren „țuică“ probieren, da sind sich alle einig, und die eilig herbeigerufene Tochter kommt mit einem randvollen Wasserglas. Wasser zum Verdünnen in unseren Mägen, denke ich noch, als sie mir das Glas unter die Nase hält. Weit gefehlt, es ist der versprochene Pflaumenschnaps. Gemeinsam schaffen wir drei das Glas, Gheorghe bekommt zugegebenerma-ßen den Löwenanteil. Bei bester Laune setzen wir unseren Weg durch Glod fort.
In die kleine Holzkirche des Ortes kommen wir schließlich doch noch – wenn auch anders als erwartet. Wir sind zu einer Hochzeit eingeladen. Wir kennen weder Braut noch Bräutigam, und auch ihre Familien sind uns völlig fremd, aber ein freundlicher Herr, dem wir zufällig auf einem der staubigen Sträßchen von Glod (- Staub) über den Weg gelaufen sind, hat uns herzlich eingeladen. Also sitzen wir am nächsten Vormittag zunächst noch etwas steif auf einer der langen Holzbänke im Hof vor dem Haus der Frau, die heute einem Mann aus dem Nachbardorf das Ja-Wort geben wird. Vor uns biegt sich der Tisch unter lokalen Köstlichkeiten, so dass ich gar nicht weiß, was ich zuerst probieren soll. Das halbe Dorf hat sich versammelt, die Frauen in ihren bunt geblümten Festtagstrachten, zu denen viele der jüngeren passende High Heels kombinieren, und die Jungs mit dem clop, dem traditionellen kleinen Hut der Maramuresch, auf dem Kopf, der immer ein wenig zu klein wirkt für seinen Träger. Eine Gruppe Männer sitzt etwas abseits im Schatten und diskutiert wild gestikulierend. Und im Haus steht die Braut, fein herausgeputzt und dauerlächelnd, lässt sich fotografieren und gratulieren. Dann ist es endlich so weit und ein kleiner Trupp aus dem Nachbardorf trifft ein, angeführt vom Bräutigam, der sich bereits ein wenig Mut angetrunken hat - wenn man nach der halbleeren Schnapsflasche geht, die er nicht aus der Hand gibt. Feierlich werden die Brautleute unter den Glückwünschen von Familie und Freunden zusammengeführt, und die beiden setzen sich an die Spitze eines langen Zuges, der, von der kleinen Dorfkapelle begleitet, durch das halbe Dorf marschiert, etliche Flaschen „țuică“ leert und schließlich an der kleinen Holzkirche haltmacht. Im Nu ist das winzige Gotteshaus zum Bersten voll mit Hochzeitsgästen, aber wir erhaschen dennoch einen Blick ins Innere. Alte Ikonen hängen an den hölzernen Wänden, geschmückt mit bunt gestickten Tüchern. Die Gläubigen sitzen auf Schafsfellen unter einem Himmel aus naiven, farbenfrohen Bibelszenen.
Und da ist es wieder, dieses Gefühl, in einer ganz anderen Zeit gelandet zu sein. Diese Illusion machen zwar die auf Hochglanz polierten Autos der Hochzeitsgäste und die allgegenwärtigen Handys zunichte, aber dennoch spüren wir deutlich den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, die an ihren Traditionen festhält. Wie der, dass die Hochzeitsfeier auf keinen Fall vor dem nächsten Morgen enden darf.