Klaipéda, auf Deutsch Memel, war bis 1920 die nördlichste Stadt Deutschlands, die 1807/8 von Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise auf der Flucht vor Napoleon für kurze Zeit zur Hauptstadt Preußens auserkoren wurde. Der damalige Regierungssitz befand sich im Gebäude des heutigen Rathauses, von wo aus Königin Luise zu Verhandlungen mit Napoleon aufgebrochen war. Dieser war von der Schönheit Luisens, Mutter von zehn Kindern, beeindruckt...
Im Norden der sich 17 Kilometer entlang des Haffs erstreckenden Stadt befindet sich die Altstadt mit zahlreichen Fachwerkbauten. Auf dem Hauptplatz vor dem Theater der Simon-Dach-Brunnen mit einer Darstellung des Ännchens von Tharau aus dem gleichnamigen bekannten Volkslied. Der Großteil der einstigen Memeldeutschen ist nach Deutschland ausgewandert, einige kehren hin und wieder als Touristen zurück. Im Hermann-Sudermann-Gymnasium erfolgt der Unterricht noch zweisprachig – deutsch und litauisch. Eine Universität und mehrere Fachhochschulen ermöglichen weiterführende höhere Studien auf Deutsch und es gibt eine Zeitung in deutscher Sprache. Bevor Richard Wagner 1837 Kapellmeister in Riga wurde, verbrachte er kurze Zeit in Memel.
Geteilte Halbinsel
Fähren von und nach Deutschland (Kiel), Dänemark und Schweden (Karlshamn) können selbst im Winter in den eisfreien Hafen von Memel einlaufen. Wir steuern den Hafen zum Übersetzen auf die Kurische Nehrung an. An der schmalsten Stelle bewältigt das Fährschiff die 380 Meter in wenigen Minuten. Wegen des sommerlichen Andrangs ist die Zahl der Personen und Pkws pro Tag begrenzt, denn die Halbinsel ist ein Naturschutzgebiet im UNESCO Welterbe. Von der Gesamtlänge von 98 Kilometern gehören 52 zu Litauen und 46 zu Russland. Litauische Fischerboote sind mit einem Wimpel versehen, der die Zugehörigkeit des Bootes markiert. Bei Sturm oder Nebel kann es vorkommen, dass man die Orientierung verliert. Wer dann in fremden Gewässern landet, zahlt doppelt Bußgeld: an den fremden und an den eigenen Staat.
Das „wilde Volk“ der Kuren („Hüte dich vor Kuren“!) bewohnte einst die Insel und vermengte sich mit den Deutsch-Balten. Ab dem Zweiten Weltkrieg sind jedoch kaum noch deutsche Spuren auszumachen. Wandernde Sanddünen haben im Laufe der Zeit 14 Orte verschlungen. Der 50 Meter hohen Großen Düne wurde durch Aufforstung Einhalt geboten. Auf dem „Dünenhaupt“ steht eine Sonnenuhr, die ihren Schatten auf eine mit Runen versehene Marmorplatte wirft. Der unfruchtbare Sandboden lässt nur begrenzte landwirtschaftliche Nutzung zu, so dass Tierfutter (Heu), Obst und Gemüse vom Festland auf die Nehrung gebracht werden.
Nidden an der Großen Düne
Nidden/Nida nahe der Großen Düne ist mit seinen 1500 Einwohnern der Hauptort auf dem litauischen Teil der Nehrung. Der Ort ist auch historisch, kulturell und landschaftlich von besonderer Bedeutung. Von Memel aus setzten Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise hier über und bezogen Quartier in einem Gebäude, an dessen Stelle heute das Hotel Jurate (Meeresgöttin) steht. Die malerischen, im Nidden-Blau gehaltenen Fischerhäuser werden über den Sommer als Ferienhäuser vermietet. Die langgestreckte Uferpromenade lädt zu ausgedehnten Spaziergängen ein.
In Nidden sollte man keineswegs das Bernstein-Museum verpassen. Der Fotograf und Besitzer des Museums, Kazimieras Mizgiris, sammelte am Strand unzählige angespülte Bernsteinreste. Sehenswert sind auch Kirche und Friedhof. Auf letzterem stößt man auf heidnische Bestattungsrelikte: Neben den Kreuzen finden sich auch im Boden befestigte Bretter mit den Daten der Verblichenen. Die im Oktober 1888 eingeweihte Kirche wurde dank Spenden evangelischer Institutionen aus dem ganzen Deutschen Reich errichtet. In der Sowjetzeit durften Gottesdienste nur bis 1962 gefeiert werden. Danach wurde die Kirche vom Staat konfisziert und durch Plünderungen schwer beschädigt. 1992, nach der Unabhängigkeit Litauens, wurde sie der evangelisch-lutherischen Kirche von Litauen zurückerstattet. Die Tochter des Malers Ernst Mollenhauer (1892-1963), die Kunsthistorikerin Maja Ehlermann-Mollenhauer (1925–2012), sorgte für die Renovierung des Gotteshauses, wo im Sommer Konzerte mit klassischer Musik dargeboten werden.
Zu Beginn des 20. Jh. hat der Hotelier, Kunstsammler und Mäzen Hermann Blode (1862–1934) in Nidden expressionistischen Künstlern kostenlos Logis geboten - und bei der Verabschiedung je ein künstlerisches Werk einbehalten: So entstand die Künstlerkolonie, die sich mit Namen wie Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, Lovis Corinth, Ernst Bischoff und Ernst Mollenhauer schmückt. Auch die Schriftsteller Thomas Mann und Carl Zuckmayer besuchten die Kolonie, die heute als Museum zum Hotel „Nidos Smilte“ gehört.
Auf den Spuren von Thomas Mann
Thomas Mann besuchte die Nehrung 1929 nach einem Vortrag in Königsberg, Ernst Mollenhauer empfing und begleitete die Familie. Die Fischer staunten nur, wer wohl dieser wichtige Gast sei, um den so viel Aufhebens gemacht wurde. Mann erwarb ein Grundstück auf dem „Schwiegermutterberg“ und ließ dort ein Sommerhaus mit Fließwasser und Strom – damals „revolutionär“ – errichten. Vormittags schrieb er im Arbeitszimmer im 1. Stock, während seine Familie am Strand lag, nachmittags gesellte sich auch er zu ihnen. Wenige Schritte vom Haus entfernt befindet sich noch heute sein Lieblingsplatz, „mein Italien“ genannt. Und wahrlich: Den Blick von hier aus über das Haff gleiten zu lassen, entschädigt für vieles - sogar für eine nicht stattgefundene Reise nach Italien.
Die Idylle währte nur kurz: 1933 musste Familie Mann Deutschland verlassen und sah das Sommerdomizil nie wieder. Im Zweiten Weltkrieg erholten sich dort deutsche Offiziere, danach sowjetische Kommunistenbonzen. Die Nehrung wurde zum Sperrgebiet erklärt, und als man sich schließlich 1965 dazu aufraffen konnte, dem Dichter eine Gedenkstätte einzurichten, war es für dessen in den USA lebenden Sohn unverständlich, wieso die Familienmitglieder zur Eröffnung nicht eingeladen wurden. Dafür stürmen jetzt Touristen das Museum, das kaum Originalgegenstände enthält – ausgenommen ein Lehnstuhl. Kopien von Briefen, Fotos der Familie Mann sowie ein Bild von Ernst Mollenhauer, das Ehrendoktordiplom von 1919 und – groteskerweise – dessen „Entzug“ aus dem Jahre 1936 zieren karge Wände.