Majestätisch erhebt sich das schneeweiße Staroveri-Kreuz in den strahlend blauen Himmel. Vom Felsen aus, der das Dorf vor Überschwemmungen schützt, fällt der Blick auf die weite Donau. Lotcas schunkeln am sandigen Ufer darunter. Ein Fischer rudert gemächlich auf das stille Wasser hinaus. Weiden wiegen sich sanft im Sommerwind. Wir laufen den wildblumengesäumten Weg ins Dorf hinunter. Hellblaue Zäune, grüne Fenster und Türen. Davor bunte Blüten im sandigen Grund, als hätte ein Maler hier immer wieder mal seinen Pinsel ausgeschüttelt…
Ghindărești ist ein Dorf, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es nicht touristisch ist. Vergeblich sucht man Pensionen und Restaurants, kein Reiseführer verweist auf diesen Ort. Doch ein Blick hinter die Kulissen des Lipowanerdorfs bei Hârșova (Konstanza) eröffnet ein Universum an Geschichte und Geschichten. Woher kamen die Menschen, die bis heute Russisch sprechen, einen uralten Dialekt noch dazu? Was motivierte sie, ihre alte Kirchentradition über Jahrhunderte hinweg akribisch zu bewahren? Und wie gelingt es ihnen, ihre Kinder für all dies noch zu begeistern? Wie die meisten Lipowanersiedlungen bildet auch Ghindărești eine Enklave, 97 Prozent der fast 2000 Einwohner sind russischer Herkunft. Als sie klein war, erzählt Anfisa Demid, die Vorsitzende des dortigen Kulturvereins, konnten die Kinder kein Rumänisch, bis sie zur Schule kamen.
Pracht in Hellblau und Gold
Ghindărești ist die erste Etappe der vom Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) organisierten Journalistenreise (2.-5. Juli) in die südliche Dobrudascha auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten. Anfisa Demid empfängt uns im Kulturhaus, ein zweckmäßiges Gebäude mit immerhin schmucker Holzfassade, die ein hellblaues Fischerboot ziert. Sie schlägt als erstes einen Besuch in der Kirche vor. Schon von Weitem hört man das Singen der Kinder, die den Vorraum auf Holzbänken bis auf den letzten Platz füllen. Ein junger Mann mit dem Rücken zum Eingang des Hauptschiffs leitet sie an. Jeden Samstag und Sonntag von 12 bis 15.30 Uhr lernen die Kleinen hier auch die Kirchensprache, Altslawisch, erklärt er. In den Ferien wird Sommerschule abgehalten. Auf dem Tisch liegen aufgeschlagene Bücher mit verschnörkelten Buchstaben in Schwarz und Rot, das kyrillische Alphabet. Die Mädchen tragen Kopftücher und Röcke, Hosen in der Kirche sind für sie tabu. Auch Besucherinnen müssen sich an diese Regel halten, wollen sie das Hauptschiff betreten. Die Kinder leihen uns bereitwillig ihre Tücher. Die engbehosten Kolleginnen dürfen die Pracht trotzdem nur aus dem Türrahmen bestaunen. Meine Pluderhose geht offenbar als Rock durch.
In der farbenfrohen, lichtdurchfluteten Kirche dominieren, wie in den meisten Gotteshäusern der Lipowaner, die Farben Hellblau und Gold. Schon von Weitem erkennt man ihre Kirchen an dem Staroveri-Kreuz, das einen zusätzlichen, geneigten Querbalken aufweist, und den beiden Zwiebeltürmen. Der höhere (45 Meter) krönt den Pronaos, wo die Männer beten, der niedrigere, breite thront über dem Naos, der Kirche der Frauen und Kinder. Die Christi-Himmelfahrtskirche von Ghindărești wurde 1906-1937 errichtet, nachdem die alte Vorgängerkirche (1871) abgebrannt war. Zum Komplex gehört noch eine zweite, kleinere Kirche (2008), Christi Geburt geweiht.
Russische Rauschebärte und Saunadampf
Viele Bräuche ranken sich um die Kirche der altgläubigen russischen Orthodoxen, auch Staroveri genannt, die nach dem Kirchenschisma von 1652, initiiert vom Patriarchen Nikon, dem alten Ritus nicht abschwören wollten. Immer wieder wurden sie deshalb schikaniert und verfolgt. Als die Verfolgungen 1685 per Dekret legalisiert wurden – über 20.000 Staroveri sind Ende des 17. Jh. auf dem Scheiterhaufen verbrannt - begann die Auswanderung in mehreren Wellen, die bis ins 18. Jahrhundert andauerte. Die Siedler in Ghindărești, so die Legende, sollen erst unter Zar Peter II. ausgewandert sein, nachdem dieser von einer Auslandsreise Zigaretten, Rasierklingen und Kartoffeln mitgebracht hatte - Güter, die es in Russland nicht gab. Daraufhin setzte er eine Modernisierung des Landes durch, die den Altgläubigen, die er besonders hasste, verbot, ihre langen Bärte zu tragen. Wer sich den neuen Regeln widersetzte, wurde gefoltert. Auf der Straße fotografieren wir einen Mann mit beeindruckendem Rauschebart vor einem der noch wenigen traditionellen Häuser. „Der Verwalter der Kirche“, erklärt eine Begleiterin.
Zu den wichtigsten mitgebrachten Traditionen gehört das Maslenița-Fest, auch Käsewoche genannt, weil vor dem Osterfasten nur Milchprodukte gegessen werden. Dann bereiten die Frauen käsegefüllte Teigtaschen (Vareniki), Pfannkuchen (Blinis) oder Piroghi (Maultaschen) zu. Man singt bestimmte Lieder und für jeden Wochentag sind Aktivitäten fest vorgeschrieben, etwa montags der Besuch bei den Eltern, dienstags bei den Paten, etc. Die Feiertage werden nach dem alten julianischen Kalender berechnet, der dem gregorianischen um 13 Tage hinterherhinkt. So fällt Weihnachten auf den 7. Januar, Neujahr auf den 13. Januar.
Auf dem Spaziergang durchs Dorf entdecken wir noch einige typische Häuser. Man erkennt sie an den hölzernen geschnitzten Dachleisten in hellblau oder grün. Am First, wo sie sich treffen, ragt eine kunstvoll beschnitzte Spitze nach oben. Als Baumaterial dienten Lehm-Strohziegel und Holz, die Dächer tragen tönerne Ziegel. Das lipowanische Bad – eigentlich eine Art Dampfsauna - ist eine Besonderheit, die hier noch zu fast jedem Haushalt gehört, wie eine junge Frau erzählt. Jeden Samstag wird der von einem Steinhaufen umgebene Wasserkessel angeheizt. Im Vorraum des Badehäuschens zieht man sich aus und legt sich auf eine Liege, wo die Haut mit einem Eichen- oder Birkenzweig zur besseren Durchblutung geschlagen wird. Den Dampf erzeugt kaltes Wasser, auf die heißen Steine gespritzt.
Wie jeder Ort, hat auch Ghind˛re{ti seine Legenden: Der Name kommt angeblich vom türkischen Wort für Schönheit, „güzdar“. Immerhin war die Dobrudscha lange von den Osmanen besetzt, bis der größere, nördliche Teil nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877-1878 Rumänien zuerkannt wurde. Auf Russisch hingegen heißt der Ort Nowenkoje, „neues Dorf“, weil sich hier die letzte Siedlergruppe aus Russland niedergelassen haben soll, erklärt Anfisa Demid. Eine Chronik in der Walachei soll die Siedlung 1837 erstmals erwähnt haben.
Kindheit auf dem Donauschlepper
Die meisten Einwohner beschäftigen sich heute mit Landwirtschaft und Viehzucht (30 Prozent), zehn Prozent mit Fischerei, der Rest der arbeitsfähigen Bevölkerung verdingt sich auf dem Bau, im Land oder im Ausland. Abwanderung ist vor allem für kompakte Minderheitendörfer ein Problem. Wenn die jungen Leute gehen, verlieren sich Sprache und Traditionen.
Wie mag das Leben früher hier gewesen sein? Anfisa Demid erzählt aus ihrer Kindheit. Wie viele Dorfbewohner arbeiteten ihre Großeltern als Matrosen auf Donauschleppern, die Sand, Ballast oder Steine transportierten. Sie überwachten die Beladung, passten auf, das nichts gestohlen wurde, halfen bei verschiedenen Arbeiten. Auf jedem Schlepper wohnte eine Familie, sie hielten Katzen, Hühner, Enten, manche sogar ein Schwein. Auch Rumänen gingen dieser Tätigkeit nach. Sie hausten in einfachen Kajüten aus Metall, ohne Strom, nur mit einer Öllampe. „Im Sommer war es heiß, man musste bei offener Türe schlafen, damit die Donau kühlte. Es war ein schweres Leben, aber schön“, betont sie und erzählt, dass sie und die anderen Enkel in den Sommerferien immer mitfahren durften. Oft gab es sechs-sieben Kinder an Bord. Die längste Fahrt führte sie bis ans Eiserne Tor. „Es war herrlich, am Wasser zu schlafen. Tagsüber schwammen wir Kinder oft neben dem Schlepper her. Wenn dieser dann für zwei-drei Tage zum Be- und Entladen anlegte, gingen wir mit den Großeltern in den Wald, machten Spaziergänge, sammelten Früchte oder angelten. Abends aßen wir Fischsuppe. Mein Großvater tauschte auch Fische bei den Schäfern gegen Milch und Käse ein. Ich war klein, ging in die erste bis vierte Klasse,“ erinnert sie sich lebhaft.
Im Kulturhaus gibt der Frauenchor „Novoseolki“ russische Lieder zum Besten. Schwermütige, aber auch frech-fröhliche Texte gehören zum Repertoire, wie das Lied der Frau, die ihren Mann auf dem Markt verkaufen wollte – und es sich dann doch überlegte, weil er dort einer anderen gefiel.
Etwas wehmütig verlassen wir diesen Ort. Ist Ghindărești schön -„güzdar“? Hat es touristisches Potenzial? Die Bilder, die noch lange im Kopf bleiben – das weiße Kreuz auf dem Felsen, die Blumen vor den himmelblauen Zäunen, die verborgene Pracht in der Kirche und die schunkelnden Kähne auf dem lindgrünen Wasserband – sollen sie doch die Antwort geben!