Brüssel - In nur wenigen Monaten hat die Europäische Union ihre Abhängigkeit von russischem Öl derart verringert, dass sie nun bereit ist, ein Embargo zu verhängen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat einen Plan für ein Importverbot von russischem Rohöl für den größten Teil der EU in den nächsten sechs Monaten angekündigt, und von Mineralölerzeugnissen bis Ende des Jahres. Doch um echte Auswirkungen auf den russischen Haushalt zu haben, muss Europa auch seine Abhängigkeit von russischem Gas beenden. Dies wird sich als deutlich schwieriger erweisen.
Europa hat es aus mehreren Gründen geschafft, seinen Bedarf an russischem Öl so rasch zu reduzieren. Öl lässt sich leicht per Tanker und nicht nur per Pipeline liefern, und es ist relativ einfach, auf dem Weltmarkt neue Lieferanten zu finden. Das Problem ist, dass es auch relativ einfach ist, ausreichend neue Abnehmer zu finden – und Russland hat viele –, um die durch ein EU-Embargo bedingten Verluste weitgehend auszugleichen.
Beim Gas ist das anders. Europa braucht Erdgas als winterliches Heizmittel und als Rohstoff für die weltgrößte chemische Industrie, auf die ein erheblicher Anteil der EU-Exporte entfällt. Und bestimmte Merkmale des Erdgasmarktes werden es viel schwieriger und kostspieliger machen, Alternativen für russische Lieferungen zu finden, als das beim Öl der Fall war.
Zunächst einmal gibt es, weil die meisten Erdgasproduzenten langfristige Verträge mit ihren Käufern haben, außerhalb Russlands kaum freie Produktionskapazitäten. Zwar gibt es Spotmärkte, auf denen man begrenzte Mengen an Gas kaufen oder verkaufen kann. Doch besteht deren Zweck darin, das Angebot und Nachfrage bedarfsgerecht regional umzuverteilen und nicht, ein zusätzliches Angebot zu schaffen.
Europas nervöse Energieminister haben bereits verschiedene globale Gasproduzenten besucht. Ihre Hoffnung war es, diese zur Ausweitung ihrer Produktion zu bewegen. Und viele große Gasproduzenten kommen dem gern nach. Aber sie warnen, dass es bis zu vier Jahre dauert, neue Projekte zu starten, und dass das wirtschaftlich nur dann sinnvoll ist, wenn der Kunde bereit ist, einen 20-Jahres-Vertrag zu unterzeichnen.
All dies bedeutet, dass das Angebot an Erdgas kurzfristig kaum veränderbar ist. Die einzige Möglichkeit, einen Mangel an russischem Gas auszugleichen, besteht daher in einer Kombination aus Energieeinsparungen und erhöhten Importen.
Damit steht Europa vor einer weiteren Herausforderung. Der Transport von Erdgas ist teuer, und seine Lagerung schwierig. Flüssigerdgas (LNG), das per Schiff transportiert werden kann, bietet die wichtigste Alternative zu per Pipeline transportiertem russischen Gas, obwohl damit eigene He-rausforderungen verbunden sind.
Nachdem das Gas verflüssigt und auf einen Spezialtanker verladen wurde, machen ein paar tausend Kilometer Fahrt keinen großen Unterschied. Das ist der Hauptgrund für die Integration der asiatischen und europäischen LNG-Märkte mit in der Regel kaum voneinander abweichenden Preisen auf beiden Kontinenten. Die Spotpreise für Gas erreichten schon im letzten Herbst – Monate vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine – ein sehr hohes Niveau, weil eine starke Konjunkturerholung in Asien die Nachfrage befeuerte.
Schon vor Beginn des Krieges in der Ukraine importierte Europa fast genauso viel LNG wie Pipeline-Gas. Doch um seine Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden, muss Europa diese LNG-Importe enorm steigern. Das wird teuer, denn es bedeutet, ursprünglich für Asien gedachte Transporte nach Europa umzuleiten. Zum Glück ist dies aufgrund einer wichtigen Asymmetrie im LNG-Handel technisch möglich: Es dauert viel länger, Verflüssigungsanlagen zu bauen als die Wiederverdampfung zu organisieren.
Wenn das LNG ankommt, müssen die Importländer lediglich das Flüssiggas in den Tankern erhitzen. Energieexperten verweisen häufig darauf, dass viele Länder nicht genügend feste LNG-Anlagen haben, um ihre Importe zu steigern. Doch schwimmende LNG-Terminals sind ebenfalls eine Option, und Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien nutzen diese bereits, um sicherzustellen, dass sie das LNG bei Ankunft auch entladen können.
Zusammen mit den Pipelines, die die meisten EU-Anbieter vernetzen, bieten diese flexiblen Verdampfungsanlagen einen gewissen Schutz gegen russische Versuche, gegen einzelne Länder vorzugehen. Europa hat in dieser Frage bereits seine Solidarität bewiesen. Als der russische Energieriese Gazprom kürzlich seine Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einstellte, sorgen Pipelines aus Deutschland und Griechenland dafür, dass die beiden Länder bekamen, was sie brauchten. Die Frage ist, ob Europa dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen wird, wenn alle Länder unter Druck stehen.
Verflüssigungsanlagen andererseits sind viel schwieriger zu beschaffen, und ihr Bau dauert viel länger, weil sie riesige Kühlsysteme benötigen, die das Gas auf -160°C abkühlen. Dies hat zwei politisch bedeutsame Konsequenzen.
Einige hoffen, dass die USA Europa mit dringend benötigtem LNG versorgen können. Aber die bestehenden US-Verflüssigungsanlagen sind derzeit voll ausgelastet, und es würde mehrere Jahre dauern, um neue Anlagen zu bauen. Solange Amerikas Exportkapazitäten begrenzt sind, wird die Umlenkung der US-Lieferungen aus Asien nach Europa nichts tun, um den Nachfrageüberschuss auf dem gemeinsamen LNG-Markt der EU und Asiens zu verringern. Für die USA hat dies den Vorteil, dass die Erdgaspreise dort viel niedriger geblieben sind als in Europa oder Asien.
Die Herausforderung, LNG-Verflüssigungsanlagen zu bauen, erhöht auch die Kosten für Russland, wenn dieses versucht, das Gas, das Europa nicht mehr abnimmt, zu exportieren. Russland wäre mehrere Jahre lang nicht in der Lage, die 140 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu verkaufen, die bisher jedes Jahr nach Europa gingen.
Wenn Europa bereit ist, den Preis für teure LNG-Importe zu bezahlen, könnte es daher Russlands Fähigkeit, sich mittels seiner Gasexporte harte Devisen zu beschaffen, schwer beeinträchtigen. Das würde ein echtes Loch in Wladimir Putins Kriegskasse reißen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Daniel Gros ist Vorstandsmitglied und Distinguished Fellow des Centre for European Policy Studies.
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