Kurzfristiges Wachstum kann über langfristige Probleme nicht hinwegtäuschen

Geringe Löhne, schwache Produktivität: Rumäniens Wirtschaft stolpert über mangelhafte Bildungspolitik

Symbolgrafik: pixabay.com

Eindeutig: In der rumänischen Volkswirtschaft macht sich seit Jahresanfang der Optimismus breit. Zuversichtlich blicken die wichtigsten Akteure in die nahe Zukunft, denn die fiskalpolitischen Maßnahmen der Regierung Ponta greifen bereits. Die Senkung der Mehrwertsteuer für Lebensmittel von 24 auf 9 Prozent heute vor einem Jahr sowie die Kürzung der allgemeinen MwSt. von 24 auf 20 Prozent zum 1. Januar 2016 haben den Konsum angeheizt und für steigende Umsätze gesorgt. Vor allem in der Lebensmittelproduktion, im Gaststättenwesen, im Einzelhandel. Auch der Bausektor boomt in Bukarest und in den anderen Großstädten drehen sich wieder die Baukräne. Büros, Geschäftsräume, Wohnhäuser werden aus dem Boden gestampft. Das Fazit? Bei den meisten Wachstumsindikatoren sind die Werte von 2008 bereits wieder erreicht, einige liegen deutlich über dem damaligen Niveau, zum Beispiel die Ausfuhren.

Eine rosige Aussicht würde man meinen, aber der Schein trügt. Die prozyklischen Maßnahmen, die in den Jahren 2013 bis 2015 beschlossen und umgesetzt wurden, täuschen über die ungelösten Probleme hinweg, verstecken hinter den neuen Fassaden von Büro- und Kaufhäusern jene Strukturmängel, die für den historischen Rückstand Rumäniens verantwortlich sind. Viele solcher Mängel weist Rumäniens Volkswirtschaft auf, kurzfristig wird wohl keines davon zu beheben sein.

In erster Linie ist es der Status eines Billiglohnlandes. Ein (derzeit noch) notwendiges Übel. Zwei Drittel der rumänischen Arbeitnehmer verdienen netto weniger als 1700 Lei und damit weniger als das Nettodurchschnittseinkommen von umgerechnet etwa 380 Euro. Bloß 34.000 Lohnempfänger verzeichnet die Statistik, die monatlich über 10.000 Lei für ihre Arbeit überwiesen bekommen, 400.000 verdienen zwischen 3000 und 10.000 Lei netto im Monat, etwa vier Millionen werden mit weniger als 3000 Lei monatlich entlohnt. 44 Prozent aller rumänischen Arbeitnehmer bekommen weniger als 1000 Lei netto pro Monat, das sind über zwei Millionen. Für etwa 1,3 Millionen Menschen liegt der Nettolohn zwischen 1000 und 1700 Lei im Monat. Dies die Daten des Arbeitsministeriums und des Nationalen Instituts für Statistik in Bukarest. Insgesamt soll es in der rumänischen Volkswirtschaft im vergangenen Jahr höchstens 4,75 Millionen Arbeitnehmer in regulären Arbeitsverhältnissen (*) gegeben haben, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 20 Millionen Einwohnern.

Der Großteil der entlohnten Arbeit wird also nicht schlecht entlohnt, sondern miserabel. Das Land bleibt ein Billiglohnparadies in der Europäischen Union. Mit einem wichtigen Manko: Es fehlen zunehmend die Facharbeiter, in ausnahmslos allen entwickelteren Regionen herrscht akuter Arbeitskräftemangel. Ist das Angebot also niedrig, die Nachfrage aber groß, müsste der Preis, also der Lohn, steigen. Zwar sind die Löhne in Rumänien in den vergangenen Jahren gestiegen, sie bleiben jedoch Schlusslicht im europäischen Vergleich. Mangelt es also an Produktivität? Ohne Zweifel, die Produktivität der rumänischen Volkswirtschaft kann mit jener in westeuropäischen Staaten nicht verglichen werden, aber es liegt nicht unbedingt und nicht immer an der fehlenden Arbeitsmoral einheimischer Lohnempfänger. Viel mehr liegt es an der Struktur der rumänischen Wirtschaft, an der Tatsache, dass es dem Land nicht gelingt, Investitionen in Bereiche mit hoher Produktivität anzuziehen und dafür auch die entsprechend ausgebildeten Facharbeiter zur Verfügung zu stellen.

Die IT-Branche, von der sich viele Wirtschaftspolitiker Wunder versprechen, steckt in Kinderschuhen, obzwar einheimische Talente allseits bewundert werden. Es fehlt auch ihr das Personal, denn die führenden IT-Fakultäten in Bukarest, Temeswar/Timişoara, Klausenburg/Cluj-Napoca oder Jassy/Iaşi sind nicht in der Lage, genug Fachleute auszubilden, und werden es auch nicht sein. Kein junger IT-Fachmann bleibt an der Universität, wenn er in die Privatwirtschaft für mindestens das Vier- oder Fünffache seiner Besoldung als Hochschullehrer gehen kann.

Die in Rumänien relativ stark vertretene Kfz-Zulieferindustrie sorgt nur bedingt für den nötigen Produktivitätsschub, welchen das Land braucht. Zwar gibt es auch in Rumänien Forschungszentren dieser Branche, aber der Großteil der Investitionen der Automobilindustrie ist in die Nachbarländer geflossen: nach Ungarn, nach Polen oder in die Slowakei. Zwar spielen auch dort die geringeren Löhne eine Rolle, aber diese waren und sind immer noch höher als in Rumänien. Was es dort gibt und hier nicht, dass sind Schulen und Autobahnen. Ihr Vorhandensein kompensiert die etwas höheren Löhne und sorgt für eine höhere Produktivität. Dass Rumänien zum zweiten Mal eine Großinvestition von Daimler verliert, diesmal an Polen, spricht Bände.

Eben weil Polen, im Vergleich zu Rumänien, in der Lage ist, das notwendige Personal auszubilden und zur Verfügung zu stellen. Rumänien kann das nicht und wird es so schnell auch nicht können. Anstatt das von deutschsprachigen Wirtschaftsclubs als Pilotprojekt durchgeführte duale Ausbildungssystem auf das ganze Land auszuweiten, streitet das Bildungsministerium über die Prozedur zur Vergabe von vermeintlichen Doktortiteln und über das seit den 1990er Jahren zigmal umgekrempelte Curriculum für die Gymnasialstufe. Mit dem Ergebnis, dass Lyzeumsabsolventen an Universitäten zugelassen werden, obwohl sie mit 19 Jahren keine zwei A4 Seiten lesen und resümieren können, Unternehmen jedoch verstärkt darauf angewiesen sind, sogenannte Werksakademien zu gründen, um dem neuen Personal das Mindeste beizubringen.

Der Teufelskreis der mangelnden Produktivität und der niedrigen Löhne muss gebrochen werden, wenn Rumänien nicht für weitere Jahrzehnte den mitteleuropäischen Nachbarn hinterher jagen will. Dafür gibt es nur einen Weg: die Bildung. Man braucht zwar eine vernünftige Industriepolitik, eine Strategie für den Einsatz von EU-Fördermitteln und den Autobahnbau sowie eine kluge Vertretung rumänischer Wirtschaftsinteressen im In- und Ausland. Aber die Erfolge solcher Pläne, sollten sie auch wirklich umgesetzt werden, bleiben höchstens mäßig, solange das rumänische Bildungssystem nicht in ordentliche Bahnen gelenkt wird. Bildungspolitik ist Wirtschaftspolitik, für Rumänien gilt das wie nie zuvor.

 

(*) Anmerkung Redaktion: Das Nationale Statistikamt gibt für das Jahr 2015 8,5 Millionen beschäftigte Personen an. Als „Angestellte“ werden rund sechs Millionen in der Statistik erfasst, dazu werden auch Schwarzarbeiter hinzugezählt. Die weiteren 2,5 Millionen Personen unterteilen sich in Unternehmer, Selbstständige sowie unbezahlte Mitarbeiter in (landwirtschaftlichen) Familienbetrieben.